Sonntag, Juli 20, 2025

Plädoyer für die Großzügigkeit

Warum die Freundlichkeit nicht nur eine persönliche Charaktereigenschaft, sondern eine linke Tugend ist.

Meine vorwöchige Kolumne über den Geist der Unbedingtheit, Sektierertum, Gegeneinander und die neuen Spielarten des Autoritarismus in der zeitgenössischen Linken hat viel Aufmerksamkeit erregt, wurde viele hunderte Male in sozialen Medien geteilt, hat extreme Zustimmung erfahren und auch viel Weiterdiskutieren. Sie hat offenbar einen Nerv getroffen, ein Unbehagen artikuliert, das viele tausende Menschen verspüren. Ich habe darin auch vorsätzlich zwei Begriffe benützt, nämlich: Großzügigkeit und Freundlichkeit.

Beides sind nicht direkt, im strengen Sinne politische Vokabel. Im Gegenteil. Die meisten Menschen würden sie eher mit persönlichen Charaktereigenschaften verbinden als mit politischer Ideenwelt. Oder gar mit Naivität. Aber das ist falsch. Bertolt Brecht formulierte in seinem Gedicht „An die Nachgeborenen“ die legendären Zeilen: „Auch der Hass gegen die Niedrigkeit / verzerrt die Züge“ und: „Ach, wir / Die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit / Konnten selbst nicht freundlich sein.“

Ich habe an meinen Freund Christian Semler erinnert, der einmal schrieb: „Freundlichkeit ist eine Haltung, sie ist lernbar“. Walter Benjamin notierte in seinen Brecht-Kommentaren bekanntlich: „Wer das Harte zum Unterliegen bringen will, der soll keine Gelegenheit zum Freundlichsein vorbeigehen lassen.“

Lob der Freundlichkeit

Die Freundlichkeit ist also keineswegs nur eine persönliche Tugend, unterhalb des Politischen. Wer die Welt zu einem besseren, faireren Platz machen will, kann nicht gleichzeitig unfreundlich sein, andere herablassend behandeln etwa. Freundlichkeit ist daher eine egalitäre Tugend, man behandelt andere auf Augenhöhe und mit Respekt. Sich über andere zu erheben, sie einer guten polemischen Pointe wegen fertig zu machen, andere wegen marginaler Differenzen zu moralisch verwerflichen Subjekten zu erklären, ihnen das Wort im Mund umzudrehen, sie zu diffamieren – all das ist unfreundlich, und man könnte nun auch sagen: das ist nicht links.

Man könnte mit einiger Beweiskraft sogar ausführen, dass das eine neoliberale Deformation der Linken ist, motiviert von einer Egomanie, die nur darauf abzielt, sich selbst als glänzende Person darzustellen, um den Preis, andere runter zu machen. Richard Sennett hat das übrigens schon vor mehr als 50 Jahren glänzend in seinem Buch „The Hidden Injuries of Class“ beschrieben, wie sich progressive Middle-Classes mit Arbeiterklassenhintergrund über die nicht ganz so fortschrittlichen Teile der Arbeiterklasse erheben, um sich selbst als „modern“ darzustellen. Sennett beschrieb darin beeindruckend, wie vordergründig „gute“ Meinungen vertreten werden aus einer „gar nicht guten“ Motivation heraus, nämlich um in der gesellschaftlichen Statuskonkurrenz einen Vorteil zu erlangen. Eine besonders groteske Ausformung neoliberaler Konkurrenzgesellschaft, auch nicht viel besser als das Posertum des Investorengesindels.

Wie alles in der Welt ist freilich auch dieses Thema voller Kompliziertheiten, und das seit ewig schon. Die „Linken“ – in der Geschichte, über die Jahrhunderte – standen in harten Klassenauseinandersetzungen. Sie machten sich für die Unterdrückten stark und sie mobilisierten die Unterdrückten zur Selbstbefreiung, und die Unterdrückung ist nicht immer eine Schule der Seelen. Sie kämpften für Demokratie und Freiheit gegen autoritäre Regimes oder sogar gegen totalitäre Diktaturen, und die kann man nicht mit Freundlichkeit wegstreicheln. Manchmal verfolgten sie Strategien des gewaltsamen Umsturzes und die Gewalt ist niemals eine Einübung in die Friedfertigkeit. Darin begründete sich immer ein Dilemma, manchmal sogar ein Selbstwiderspruch. Und dieses Dilemma lässt sich nicht mit pastoralen Moralpredigten leicht weg bringen. Die herrschenden Verhältnisse produzieren Wut und Zorn, die ihre Berechtigung haben, und sich nicht immer gut mit Nettiquette vertragen.

Das Gewalt-Dilemma

Linke „lösten“ dieses Dilemma (die Gänsefüßchen verweisen darauf, dass sie es natürlich nicht lösten), durch zwei Strategien. Die einen verfolgten, wenn man das so nennen will, ein Modell zeitlicher Sukzession: Wir müssen heute hart sein, um dann, wenn die Verhältnisse umgestürzt sind, weich sein zu können. Das hat praktisch immer ganz schlecht funktioniert, denn aus der Härte der Revolutionäre folgte meist die Härte von Morgen, und nicht die plötzliche Sanftheit. Die andere Strategie war die der „Antizipation“ künftiger, besserer Verhältnisse, eine Einübung in andere, freundliche, solidarische Lebensweisen bereits in unfreundlichen Verhältnissen. Daraus folgte meist ein Reformismus, dessen welthistorische Bilanz sicherlich eine bessere ist als die des Vereins der Freunde der Härte. Eine reine Erfolgsgeschichte war das aber auch nicht immer.

Die Freundlichkeit ist eine unzeitgemäße Haltung angesichts der Unmenschlichkeiten der Gegenwart. Sie ist geradezu subversiv, fast eine Antizipation einer Welt ohne Kälte. Die Freundlichkeit ist das Gegenmodell zum Narzissmus der kleinen Differenz. Sie ist, zum Zwecke des Aufbaus breiter Allianzen, auch eine Voraussetzung der Weltverbesserung. Wer potentielle Verbündete wegen kleiner Differenzen beschämt und anprangert, wird schon rein praktisch gesehen eher in einer Sackgasse landen, verbunden mit einer Handvoll bester Freunde, die auf andere Bubbles bester Freunde einprügeln. Aber es ist nicht nur wegen der sicheren Erfolglosigkeit ein Holzweg, sondern auch grundsätzlich.

Eine Welt der Freien und Gleichen

Selbst wenn ich mir völlig sicher bin, recht zu haben, ist die Rechthaberei dem Anderen gegenüber keine emanzipatorische Haltung. Diese bestünde darin, sie oder ihn ernst zu nehmen, ihnen nicht mit böswilligen Unterstellungen oder vorsätzlichem Missverstehen zu begegnen, sondern mit Großzügigkeit. Nicht jeder, der meine Ansichten nicht teilt, tut dies aus niederträchtigen Motiven. Manchmal wissen es die Menschen nicht besser. Manchmal weiß aber vielleicht auch ich nicht, was die Anderen tatsächlich bewegt, häufig hat einfach jede Seite einen Teil der Wahrheit.

Hans Georg Gadamer hat vor 25 Jahren in einem Spiegel-Interview gesagt: „Wir müssen endlich wieder lernen, wie man ein richtiges Gespräch führt (…) Ein Gespräch setzt voraus, dass der andere Recht haben könnte.“ Die Großzügigkeit und die Vorannahme, dass auch der Andere kein niederträchtiges Subjekt ist (zumindest bis zum sicheren Beweis des Gegenteils), auch sie sind eine politische Tugend und nicht nur persönliche, individuelle Charaktereigenschaften. Ohne die Großzügigkeit ist eine Gesellschaft der Freien und Gleichen nicht zu haben.


Titelbild: Miriam Moné

Autor

  • Robert Misik

    Robert Misik ist einer der schärfsten Beobachter einer Politik, die nach links schimpft und nach rechts abrutscht.

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