Jeden Samstag kommentiert Schriftsteller Daniel Wisser an dieser Stelle das politische Geschehen. Dabei kann es durchaus menscheln – it’s a feature, not a bug!
Wien, 13. März 2021 | Was unserer Zeit fehlt, sind Subkulturen, wie sie in trotzender Auflehnung gegen eine viel schlimmere Welt als heute in den 1960er- und 1970er-Jahren Popkultur, politischen Aktivismus und gesellschaftliche Erneuerung vorangetrieben haben. Was wir heute stattdessen geboten bekommen, ist kein wirklicher Ersatz: Eine pöbelnde Meute läuft am Wochenende durch den Wiener Prater und ist mutig genug, betrunken und in großer Überzahl kleine Kinder von den Schaukeln auf dem Spielplatz zu vertreiben.
Diese Meute besteht aus Neonazis und den neueren Plüschtier-Hitlers, die von der Polizei zärtlich wieder auf die Beine gestellt werden, wenn sie beim Randalieren gegen spielende Kinder hingefallen sind. Dabei sind auch Menschen, die behaupten, nicht Impfungen, sondern nur Jesu Blut heile Krankheiten, Menschen, die Tibet befreien wollen, indem sie mit Bierdosen in der Hand ohne Maske andere in der U-Bahn anpöbeln und Menschen, die von überhaupt nichts wissen und es arg finden, mit jemandem in Verbindung gebracht zu werden, der fünfzig Zentimeter neben ihnen ohne Maske geht.
Niemand ist sein Freund
Aus dieser Ansammlung sticht ein Mensch heraus, der klein und zornig ist und nicht dazugehört: Herbert Kickl. Das Quälende und Gequälte an ihm ist die Hartnäckigkeit, mit der er gegen das Nicht-Dazugehören kämpft. Wem tut er nicht leid, der arme, kleine, hässliche Streber in der ersten Reihe, der es nicht ein einziges Mal schafft, vor den Mitschülern ein Held zu sein oder ein Mädchen zu kriegen, ja, der selbst von den Lehrern trotz guter Leistungen ignoriert wird? Wie viele mussten sich mühsam vom Gefühl der Minderwertigkeit befreien, um ihre Kräfte freizulegen?
Nicht so Herbert Kickl. Er hat geschworen, es allen zu zeigen. Er will dazugehören und doch ist niemand sein Freund. Er hat sich sogar eine Partei ausgesucht, in der er sein Schicksal ein zweites Mal durchleben musste. In der FPÖ gibt es die Burschenschafter, der harte Kern der Partei, der alle Krisen (wie z. B. 2005) durchhält. Herbert Kickl ist kein Burschenschafter. Dann gibt es die Polit-Strizzis wie Westenthaler und Grasser. Sie wollen politische Ämter und wechseln dafür jederzeit die Partei. Sie sind nur in den Schönwetterphasen da und stolpern über sich selbst. Auch zu ihnen gehört Herbert Kickl nicht. Und da sind reiche Unternehmer wie Thomas Prinzhorn, die irgendwann genug haben vom Chaos in der FPÖ. Kickl gehört auch zu ihnen nicht, hasst sie sogar am allermeisten.
Verschwendete Stunden
Herbert Kickl ist der tragische Fall eines Arbeiterkindes, das gegen die eigene Klasse kämpft. In der FPÖ musste er sich von unten hocharbeiten, als Schreiber von Sprüchen und Reden für Jörg Haider. Nach der Gründung des BZÖ bereute Kickl, so lange für Haider gearbeitet zu haben. Danach machte er dieselbe Arbeit für H. C. Strache, nur um einmal darüber zu sagen: »Mir ist es ehrlich gesagt leid um die vielen Stunden, die wir verschwendet haben.«
Dazwischen liegen 520 Tage, in denen Herbert Kickl Innenminister war. Bundeskanzler Sebastian Kurz und die Neue Volkspartei machten ihn zum Innenminister. Seit der sogenannten Flüchtlingskrise und dem Bundespräsidentschaftswahlkampf war Kurz keine faschistische, xenophobe und ausländerfeindliche Propaganda zu billig. Kurz wusste wie jeder in diesem Land, wer Kickl ist. Als Minister setzte Kickl seine Sprüche fort, sprach vom konzentrierten Halten von Asylwerbern, Ein-Euro-Jobs für Flüchtlinge, wollte die Justiz unter Kuratel der Politik stellen, wie Kurz es jetzt auch will. Sieben Misstrauensanträge der Opposition gegen Kickl hat die ÖVP mit ihren Stimmen abgeschmettert. Selbst als Kickl im Mai 2018 den Umbau des BVT ankündigte, zog just sein heutiger Kritiker und Nachfolger Karl Nehammer aus, um Kickl zu verteidigen: »Das Vorgehen von Innenminister Herbert Kickl war selbstverständlich mit der neuen Volkspartei abgestimmt und akkordiert.«
Es ist also nichts als Lüge und Parteitaktik, wenn Kurz und Nehammer sich jetzt auf Kickl einschießen. Doch lassen wir die Kämpfe Rechtsextremer untereinander beiseite. Was heute viel gefährlicher ist, ist die Tatsache, dass sich nun Menschen Kickl anschließen, die seinem Scheinideal von Freiheit neuerlich auf den Leim gehen. Mir stockte der Atem, als ich vor Kurzem einen Tweet las, in dem jemand schrieb, es bliebe ihm nun nichts anderes mehr übrig, als an der Seite von Herbert Kickl die Demokratie in Österreich zu verteidigen.
Part of the Mogelpackung
Ich fordere Menschen, die so denken auf, nicht immer nur ihre Timeline zu refreshen, sondern die Geschichte der letzten Jahre nachzulesen. Kickl, der sich in der Opposition als Demokrat hervortat, lehnte das Sicherheitspaket der ÖVP mit den Worten es sei DDR 4.0 kategorisch ab. Als Minister setzte er es um. Kickl wollte wie Strache eine Volksabstimmung zu CETA. Als Minister ratifizierte er das Abkommen ohne Volksentscheid. Kickl bezeichnete die Liste Kurz 2017 als Mogelpackung. Im selben Jahr wurde er Teil der Regierung dieser Mogelpackung.
Wer Kickl für einen Verfechter der Demokratie hält, wird Opfer eines weit verbreiteten Irrtums. Selbst Literaten wie Michel Houellebecq, Monika Maron und Uwe Tellkamp sitzen diesem Irrtum auf. Dieser Irrtum beruht auf einem Induktionsfehler: dem unerlaubten Umkehrschluss.
Fehler in der Logik
Wenn die Partei A hundert Thesen aufstellt und die Partei B richtigerweise feststellt, dass zwei dieser Thesen falsch sind, bedeutet das nicht, dass alle Thesen der Partei B deshalb richtig sind. Natürlich hat Herbert Kickl nicht immer unrecht und die Taktik, alles, was er sagt, schon a priori abzulehnen, ist falsch. Wenn Kickl bei minus fünfzehn Grad sagt, dass es kalt ist, dann hat er recht. Das bedeutet aber noch lange nicht, dass alles, was Kickl sagt, richtig ist, nur weil ihm widersprochen wird. Doch dieser Logikfehler ist leider pandemisch geworden.
Wären die Subkulturen der 1960er-Jahre, die Bewegungen gegen den Vietnamkrieg, diesem falschen Schluss aufgesessen, so hätten sie während der Präsidentschaften von Kennedy und Johnson empfohlen, die Republikaner zu wählen, da sie die Gegner der Demokraten waren. Da aber auch die Republikaner für den Vietnamkrieg waren, tat die Friedensbewegung das richtigerweise nicht.
Kickls neue Klientel
Ja, die FPÖ-Mandatare im Nationalrat setzen sich manchmal für soziale Belange, und demokratische Kontrolle ein. Das ist nicht unwichtig, doch hat die Sache einen Haken: Sobald sie in einer Regierung sind, ist ihr soziales und demokratisches Empfinden verdampft. Und sie sind leider davon überzeugt, dass sie Rekordergebnisse bei Wahlen nur erzielen können, wenn sie negative Botschaften und Untergangsszenarien verbreiten. Seit fünfunddreißig Jahren haben sie keine positive Botschaft mehr verbreitet.
Herbert Kickl hat in seinem dritten politischen Leben eine neue Klientel gefunden: die Corona-Leugner, Impf- und Maskengegner, Verwirrte und Verirrte, die ihre eigenen Naturgesetze definieren. Sie sind perfekt für seine politische Agenda: Desolidarisierung, Radikalisierung, Desinformation. Sie werden irgendwann bemerken, dass die FPÖ keinen einzigen konstruktiven Vorschlag für die Bewältigung der derzeitigen Krise hat und dass sie mit ihren Umzügen nichts erreicht, außer dass ohnehin strapazierte Menschen an den Wochenenden auch noch ihrer Erholungsgebiete beraubt werden. Mit Kickl gibt es weder mehr Demokratie noch Fortschritt. Und mit Kurz schon gar nicht. Der hat Kickls Slogans nur abgeschrieben.
Daniel Wisser
Titelbild: APA Picturedesk