Das Österreich, das wir kannten
Jeden Samstag kommentiert Schriftsteller Daniel Wisser an dieser Stelle das politische Geschehen. Dabei kann es durchaus menscheln – it’s a feature, not a bug!
Daniel Wisser
Wien, 27. Februar 2021 | In neun Tagen erscheint mein Roman Wir bleiben noch. Mit Erscheinen ist gemeint, dass man ihn im Buchhandel kaufen kann. Denn die geplanten Präsentationen in den Bundesländern wurden abgesagt, die Leipziger Buchmesse (der wichtigste Frühjahrstermin der deutschsprachigen Buchbranche) wurde abgesagt und das frühere Leben, das aus Treffen, Diskussionen, Reisen und einer vielseitigen, bunten Medienwelt bestanden hat, ist zusammengefallen auf den Computer, vor dem ich im Hausarrest sitze.
Obwohl der Roman in den Jahren 2018 und 2019 spielt, ist sein Titel durch die aktuellen Entwicklungen noch aktueller geworden. Denn es gibt einen nicht kleinen Teil der Bevölkerung – ich behaupte, es ist eine Mehrheit –, die das Österreich, das wir kannten, nicht aufgeben will. Dieses Nicht-Aufgeben-Wollen gründet sich nicht auf Sentimentalität, Kulturpessimismus oder Wehleidigkeit, sondern auf dem Erkennen der simplen Tatsache, dass es uns vor 2018 besser ging als heute.
Demokratischer Konsens
Als es Österreichs Freiheit zu erkämpfen galt, sein Wiedererstehen der Demokratie aus den Trümmern, die zwei Diktaturen hinterlassen hatten, waren die gemeinsamen Ziele der beiden Großparteien ÖVP und SPÖ unbestritten. Die langen Bemühungen um den Staatsvertrag zeigten diese Gemeinsamkeiten. Aber auch später, etwa bei der Niederschlagung des Prager Frühlings, als in Österreich eine Alleinregierung der ÖVP das Sagen hatte, zog die SPÖ in der Außenpolitik mit der ÖVP mit und versuchte nicht, in dieser Sache parteipolitisch zu agieren. Der außenpolitische Gesandte in Prag wurde sogar (obwohl er der SPÖ nicht angehörte) erster Außenminister der Regierung Kreisky und später von der SPÖ aufgestellter Bundespräsidentschaftskandidat: Rudolf Kirchschläger.
Beginnend mit dem Jahr 2016 mussten wir feststellen, dass der demokratische Konsens, auf dem dieser Zusammenhalt aufgebaut ist und auf dem die Sozialpartnerschaft seit Jahrzehnten gründete, zum Zweck parteipolitischer Taktik torpediert wurde. Innerhalb der ÖVP war ein Putsch im Gange und die neuen Herren, die sich den Weg zur Macht bahnten, hatten ein klares Ziel: die große Koalition zu zerstören.
Schnell mürbe werden
Das geht klar aus den SMS hervor, die wir heute kennen: „Lustig wäre übrigens, wenn sobotka interimistisch Vizekanzler wird, dann ist Kern schnell mürbe…“, schrieb Bernhard Krumpel vier Tage nach dem Rücktritt von Vizekanzler Reinhold Mitterlehner. (Bernhard Krumpel war Wolfgang Sobotkas ehemaliger Pressesprecher und ab 2017 Sprecher der Novomatic.)
Daran sehen wir, dass nicht nur die Zerstörung der Koalition um jeden Preis Absicht war, sondern auch dass man Wolfgang Sobotka nicht aufgrund seiner Kompetenz einsetzt, sondern weil er als Zerstörer fungieren und andere mürbe machen soll. Es soll lustig sein und nicht Politik gemacht werden. Das ist ein bösartiges und feindseliges Bild einer Regierungspartei, die ein Koalitionsübereinkommen mit einer anderen Partei geschlossen hat, die sie nun mürbe machen will.
Eine düstere Zeit
Im Sommer 2017 war diese aggressive Politik schon viel weiter gediehen. Mit Strache war die kommende Koalition bereits abgesprochen. Am 24. Juli 2017, als das Ibiza-Video entstand, kannte Strache sogar bereits die Ressorts, die die FPÖ in der Regierung bekommen sollte. Nach der Angelobung der ÖVP-FPÖ Regierung schrieb eine Heerschar von Chefredakteuren, deren Medien heute von der Neuen Volkspartei kontrolliert werden, dass diese Regierung alternativlos gewesen sei. Sie twitterten das privat und logen bewusst für ihren Geldgeber Sebastian Kurz. Es ist eine düstere Zeit der Presseunfreiheit in Österreich, die mit 2018 beginnt und bis heute fortdauert. Zensur, Lügen und verzerrte Berichterstattung auf Regierungsseite, Drohungen und Einschüchterungsversuche gegen regierungskritische Berichterstattung zählen seither zur Tagesordnung.
Wir können sie aufhalten
Pessimismus, Untergangsstimmung, Wehleidigkeit und Sentimentalität haben in der Politik keinen Platz. Wir können die Kapitulation vor der Pandemie, das Verscherbeln unseres Landes an den Bestbieter noch aufhalten. Noch haben die Österreicherinnen und Österreicher das Sagen, noch gibt es ein Parlament, auch wenn die Regierung dieses Gremium, das vom Volk gewählt ist und dessen Willen zum Ausdruck bringt, mürbe machen will.
Die linksliberalen Parteien SPÖ, Neos und Grüne werden nach der nächsten Wahl über eine Mehrheit verfügen. Sie werden mit dieser Mehrheit sorgsam umgehen und zum Konsens bereit sein müssen. Denn die Österreicher*innen wollen endlich wieder Regierungen, die arbeiten, die Legislaturperioden nutzen und das Land nicht durch Verhältnisse wie in korrupten Staaten weiter destabilisieren.
Der Dackel und die Knackwurstsammlung
Es wird genug zu tun sein. Damit das Österreich, wie wir es kannten, in fünf Jahren wieder in alter Blüte vor uns steht, müssen Klein- und Mittelbetriebe, Arbeitende, Einzelunternehmer*innen, Kunst und Kultur gestützt werden, muss gegen Arbeitslosigkeit und eine gigantische Pleitewelle gekämpft werden. Dazu werden eigene Mittel nötig sein und vor allem: breite Solidarität. Die Intransparenz der COFAG, wie wir sie jetzt haben, ist eine demokratiepolitische Frechheit. Solidarisierung und Bereitschaft zur Unterstützung muss im Gegenzug klare Rechenschaft ablegen.
Das Fernhalten der ÖVP besonders von den Ministerien Inneres, Justiz und Finanz (zumindest für fünf oder besser zehn Jahre) ist auch eine demokratiepolitische Notwendigkeit. Freilich muss die Hoffnung, dass die Volkspartei zum demokratischen Konsens zurückkehrt aufrecht bleiben. Es ist allerdings zu bezweifeln, ob das unter Obmann Sebastian Kurz passieren wird. Denn hier gilt der berühmte Vranitzky-Spruch über Jörg Haider: Eher er das tut, legt sich ja ein Dackel eine Knackwurstsammlung an.
Österreich nicht aufgeben
Ich werde heuer fünfzig Jahre alt. Ich bin ein Mensch, der in der Aufbruchsstimmung der Kreisky-Ära groß geworden ist, und viele Dinge für selbstverständlich gehalten halten, die man heute gedankenlos entsorgen möchte. Ich will kein Österreich, in dem ein Prozent der Wohlhabendsten einen Staat im Staat betreibt und mit seinem Kapital eine fachlich und menschlich inkompetente Regierung alles zerstören lässt, was dieses Land jahrzehntelang ausgemacht hat. Und ich glaube, ich bin nicht der einzige, der so denkt.
Die Demokraten werden so schnell nicht mürbe. Sie werden bleiben auch unter den Bedrohungen, die von den Zerstörern des Zusammenhalts ausgehen. Ich möchte bald wieder in Lokalen sitzen, Gespräche führen, ins Theater, ins Kino und zu Konzerten gehen, Lesungen machen, reisen, Buchmessen besuchen und in einem freien Land leben. Und ich glaube, dass viele Menschen, sehr viele, ja die Allermeisten dieselbe Sehnsucht haben. Die jetzige Regierung hat Österreich aufgegeben. Ich kann und will das Österreich, das ich einmal kannte, nicht aufgeben. Wir können es erhalten. Wenn wir wollen.
Titelbild: Daniel Wisser