Not a Bot
Jeden Samstag kommentiert Schriftsteller Daniel Wisser an dieser Stelle das politische Geschehen. Dabei kann es durchaus menscheln – it’s a feature, not a bug!
Es ist eine Meditation. Sie hat auch einen Namen, ein Wort aus dem Sanskrit oder Pali, aber ich habe diesen Namen vergessen. Die Meditation besteht darin, seine Umwelt wahrzunehmen und das Gefühl zu analysieren, das in einem aufkommt. Dann überwindet man dieses Gefühl, indem man erkennt, dass man nur eine Störung der Meditation wahrgenommen hat und kehrt zur Meditation zurück. Aber was ist die Meditation? Die Meditation besteht darin, seine Umwelt wahrzunehmen und das Gefühl zu analysieren, das in einem aufkommt. Ach, diese schlauen indischen Weisen!
In Indien habe ich einmal in einem Geschäft eine Bastmatte gesehen, die auf einem Schild als MADITATION MAT angepriesen wurde. Ich würde das als Freudschen Fehler bezeichnen, denn die Meditation kann einen wirklich MAD machen. Selbstverständlich ist das Gegenteil das Ziel.
Ruhezone
Wenn ich Zug fahre reserviere ich meist in der Ruhezone. Ich möchte auf dem Laptop arbeiten, Texte schreiben und besonders das Mithören von Gesprächen und Telefonaten ist von mir nicht erwünscht. Doch es ist nicht immer einfach mit der Ruhezone in Österreich. Zwar steht dort in Bildsprache, dass Sprechen und alle Laute, die von Mobiltelefonen ausgehen nicht erwünscht sind, doch die einen wissen das nicht, die anderen kümmert es nicht und wieder andere fühlen sich durch Verbote eingeschränkt und ihrer Freiheit beraubt.
Vor zwei Tagen war es wieder soweit. Im Railjet nach Bregenz in der Ruhezone lässt sich seelenruhig ein Paar nieder, verschlingt noch während der Zug auf dem Hauptbahnhof Wien steht seine mitgebrachten Sandwiches, reißt zwei Dosen Gösser auf und beginnt angeregt miteinander zu schnattern. Halt! Ich bin mitten in meiner Meditation. Ich soll mein Gefühl analysieren. Und ich habe es schon: Es ist Ärger! Nein, es ist Wut! Warum schaffen es Österreicher nicht, die Regeln in der Ruhezone einzuhalten? Ich habe doch extra in der Ruhezone reserviert, damit ich arbeiten kann. Die Meditation soll helfen meine Wut zu überwinden. Es ist uncool, Menschen zurechtzuweisen, ihnen Regeln zu erklären, sie zu ermahnen, genauso wie es uncool ist, sich auf Twitter über Zugverspätungen zu beschweren und dabei den Account der Bahngesellschaft zu taggen. Ich kehre zurück zu meiner Meditation. Ich bin immer noch wütend. Mir fällt eine Geschichte ein.
Today we are a free country!
Als ich in den 90er-Jahren mit Interrail in Marokko unterwegs war, stieg ich in Tanger in einen Zug. Eine junge Amerikanerin schloss sich mir an, aber wir hatten, wie das in Marokko eben so ist, auch zwei Marokkaner im Abteil, die sich als unsere Reiseführer anboten, oder eher aufdrängten, jedenfalls nicht mehr von unserer Seite wichen. Beide zündeten sich sofort nach dem Einsteigen eine Zigarette an. Die Amerikanerin zeigte ihnen das Rauchverbotsschild im Coupé. Einer von ihnen lachte und sagte: »This sign is very old. Today Maroc is a free country.«
Gut, ich muss zurück zur Mediation. Ich habe das Paar neben mir, die Sandwiches (es war da sicher Thunfisch dabei) und ihr Schmatzen atomisiert. Ich bin wieder ganz bei mir. Nach dem Essen und Trinken setzen sie aber ihre FFP2-Masken nicht wieder auf. Sie unterhalten sich fröhlich weiter. Dummerweise habe ich auf dem Laptop meinen Twitteraccount offen. Ein Tweet bringt mich zu der Seite einer Boulevardzeitung, die eine Aussage unseres Bundeskanzlers bringt: »Die Masken werden fallen.« Ein sommerliches Faschingsende? Natürlich nicht. Mein Blutdruck steigt. Ich bin nicht nur wütend, jetzt bin ich gehässig.
Maskenfall
Ich trage auch auf der Straße die FFP2-Maske und zwar meistens aus dem Grund, dass ich sonst vergessen, sie vor dem Betreten eines Geschäfts aufzusetzen, was mir sehr peinlich ist. Es ist mir wirklich einmal passiert, dass ich an der Kasse im Supermarkt stand und bemerkte, dass ich die ganze Zeit keine Maske aufhatte. Dennoch hat niemand etwas gesagt. Sie haben vermutlich alle meditiert.
Unlängst also kam ich vom Einkaufen nach Hause und beim Haustor begegne ich einer anderen Bewohnerin des Hauses. Sie sagt nicht Hallo oder Servus, sondern: »Habe ich etwas nicht mitbekommen? Muss man jetzt im Freien auch schon …« Und dann macht sie eine verächtliche Handbewegung, mit der sie die Maske darstellt, als wäre sie ein langer Schnabel wie der einer venezianischen Karnevalsmasken.
Auch hier habe ich nichts gesagt, ich bin zu meiner Meditation zurückgekehrt. Innerlich bin ich nicht ruhig geblieben. Warum schließt jemand davon, dass ich eine Maske trage, darauf, dass man sie tragen muss? Muss man Fahrrad fahren, wenn ich mit dem Fahrrad fahre? Muss jemand anderer meditieren, nur weil ich meditiere?
Karneval
Es ist symptomatisch in diesem Land, dass Konventionen und Übereinkünfte automatisch als Vorschriften und Befehle erachtet werden. Nein, die Ruhezone ist nicht ein Abteil, in dem Fahrgästen gewisse Dinge verboten werden, sondern sie ist im Gegenteil dazu da, dass alle, die das wollen, hier ungestört sitzen und arbeiten oder auch nur meditieren können. Und sie ermöglichen es allen anderen, indem sie sich an Regeln halten.
Das freiwillige Tragen des Mund-Nasen-Schutzes, wenn man erkältet oder krank ist, reduziert die Verbreitung von Krankheiten. In den Winter-Lockdowns haben wir in Europa den eklatanten Rückgang von Erkältungskrankheiten und grippalen Infekten gesehen. In Japan macht man das seit Jahrzehnten so. Und das freiwillige Tragen des Mund-Nasen-Schutzes zeigt Rücksicht und Respekt. Es fallen also nicht alle Masken, sondern es sollte nur keine Masken-Pflicht mehr geben, allerdings die Empfehlung, dass man, wenn man erkrankt ist und sich in der Öffentlichkeit bewegt, Mund-Nasen-Schutz trägt.
Regt mich das auf? Es regt mich sehr auf. Aus mir wird wohl kein Weiser, kein Yogi oder Bodhisattva mehr werden. Ich glaube, ich habe die Dame, die im selben Haus wie ich wohnte, auch sehr aufgeregt. Mehr als wenn ich in der Ruhezone geschnattert und stinkende Thunfischsandwiches gegessen hätte.
Null Treffer
Mit dem Zug war ich auf dem Weg zu einer Lesung. Das sind jene Veranstaltungen, bei denen regelmäßig ein Handy im Publikum losgeht und nach denen mich die Menschen fragen, ob ich wirklich von der Schriftstellerei leben kann und warum ich denn um Himmels willen bei der Millionenshow die kinderleichte Millionenfrage nicht habe beantworten können.
Dafür ist mir während der Lesung plötzlich eingefallen, wie die Meditation heißt, von der ich spreche: Mahasattiuppathana. Auf der Rückfahrt von der Lesung sitze ich wieder im Ruheabteil und gebe Mahasattiuppathana in Google ein: Null Treffer. Schon in Jenbach steigt ein anderer Fahrgast ein und geht durch die Ruhezone. Und ich denke: »Bitte, geh ins nächste Abteil und setz dich ja nicht hier her!«
Titelbild: APA Picturedesk