Polizeigewalt bei Berliner Demo
Kam es am Sonntag bei der verbotenen Demonstration in Berlin zu Menschenrechtsverletzungen? Einer Vielzahl von entsprechenden Hinweisen geht UN-Beauftragter Nils Melzer nun nach.
Wien/Berlin, 06. August 2021 | Mit viel Gewalt griff die Polizei am Sonntag gegen die verbotene Anti-Corona-Demo durch. Die Bilder gingen um die Welt, was den UN-Sonderbeauftragten für Folter, Nils Melzer, dazu veranlasst hat, die Menschen aufzurufen, erlebte Polizeigewalt bei ihm zu melden. Es folgten Hunderte Hinweise, die sich oft auf die dieselben Fälle beziehen.
Toter Demonstrant
Melzer, der durch sein Gutachten im Fall Julian Assange bekannt wurde, hat nun die Aufgabe, mögliche Gewaltexzesse und Polizei-Übergriffe zu prüfen und dann die deutsche Regierung darüber zu informieren und sie zur Aufklärung auffordern.
Infolge eines Polizeieinsatzes kam ein Demonstrant ums Leben. Sascha „El Chancho“ war Gründungsmitglied der neuen Partei „die Basis“ sowie für die Lockdown-kritische Gruppe „Freie Linke“ aktiv. Die Rolle der Polizei rund um dessen Ableben ist nicht geklärt. Laut Ermittlern sei die Todesursache ein Herzinfarkt gewesen. „El Chancho“ starb jedenfalls nach seiner Festnahme im Spital.
Nils Melzer sagte gegenüber der „Berliner Zeitung“, dass seine sehr große Zahl an Berichten über Polizeigewalt bei ihm eingegangen sei. „Wir werden jetzt das Material sichten und bewerten. Jede einzelne Mitteilung und jedes einzelne Video müssen genau verifiziert werden und ich werde auch mit direkten Augenzeugen sprechen. Aber mein Eindruck ist, dass in mehreren Fällen Anlass genug für eine offizielle Intervention meinerseits bei der Bundesregierung besteht.“
Käme es zu einer Intervention, würde er sich über die deutsche UN-Vertretung an das deutsche Außenministerium wenden. Außenminister Heiko Maas (SPD) müsste dann den Berliner Innensenator beauftragen, sich damit zu befassen.
Alarmruf von UN-Sonderbeauftragten
Weltweit zeigt sich Melzer „sehr besorgt über die Entwicklung von Polizeieinsätzen bei Demonstrationen“. Das betreffe nicht nur Länder wie Hongkong, Belarus, Kolumbien oder die USA, sondern auch die Corona-Demonstrationen in Europa: „Da läuft etwas ganz Fundamentales schief. In allen Regionen der Welt betrachten die Behörden die eigene Bevölkerung offenbar zunehmend als Feind“, sagt Melzer im Interview mit der Berliner Tageszeitung. Politisch Verantwortliche dürften die Vorfälle weder kleinreden noch „auf die leichte Schulter nehmen“.
Nils Melzer. Bild: APA Picturedesk.
Gleichzeitig seine auch Gewalt-Aktionen gegen Polizisten nicht hinnehmbar, sondern Straftaten, die auch bestraft werden müssten: „Vereinzelte Gewalt von Demonstranten darf aber keinesfalls der Rechtfertigung von Polizeigewalt gegen andere, nicht gewalttätige Demonstranten dienen.“ Melzer über die Demo in Berlin: „Von den Bildern und Informationen, die uns bis jetzt vorliegen, haben wir den Eindruck, dass es sich bei den Protesten mehrheitlich nicht um gewaltbereite Randalierer gehandelt hat. Es waren Frauen, Kinder, Radfahrer, ältere Leute.“
Gefährliche Spirale in Gang gesetzt
Das sei inakzeptabel. Denn wegen bloßer Ordnungswidrigkeiten oder zivilem Ungehorsam könne man nicht mit teils lebensgefährlicher Gewalt vorgehen. Die Polizei sei zur Verhältnismäßigkeit verpflichtet. Auch wenn angeordnete Corona-Maßnahmen vorsätzlich ignoriert werden würde, wäre dieser Gewalteinsatz nicht verhältnismäßig. Die Corona-Demos protestieren ja auch gegen Abstandsregeln und solange dies friedlich geschehe, dürfe nicht mit Gewalt reagiert werden.
Ein weiteres Problem für Melzer: „Die Bilder von den Demonstrationen, wie sie sich jetzt viral verbreiten, haben für sich genommen bereits eine gewalttätige Wirkung. Wenn die Polizei nicht klar kommuniziert, dass sie sich als Freund und Helfer versteht, sondern die eigene Bevölkerung als Feind behandelt, dann ist eine gefährliche Spirale in Gang gesetzt: Dass nämlich als nächstes die Bevölkerung die Polizei ebenfalls als Feind betrachtet und am Ende die Regierung.“ Die Behörden müssten dringend auf bewährte De-Eskalationsmethoden setzen.
(ot)
Titelbild: APA Picturedesk