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Not a Bot – Sternstunden der Menschlichkeit

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Not a Bot – Sternstunden der Menschlichkeit

Sternstunden der Menschlichkeit

Jeden Samstag kommentiert Schriftsteller Daniel Wisser an dieser Stelle das politische Geschehen. Dabei kann es durchaus menscheln – it’s a feature, not a bug!

von Daniel Wisser

Wien, 14. August 2021 | In Brechts Dreigroschenroman steht: »Der Mensch hat die furchtbare Fähigkeit, sich gleichsam nach eigenem Belieben gefühllos zu machen, wenn er die für ihn schädlichen Folgen seiner Gefühlsseligkeit entdeckt. So kam es zum Beispiel, daß ein Mann, der einen andern Mann mit einem Armstumpf an der Straßenecke stehen sah, ihm wohl in seinem ersten Schrecken das erste Mal ein Zweipencestück zu geben bereit war, aber das zweite Mal nur mehr einen halben Penny, und sah er ihn das dritte Mal, übergab er ihn womöglich kaltblütig der Polizei.«

Hier wird genau beschrieben, wie es sich mit unserer Einstellung zu »den Flüchtlingen« verhält. 2015 wurde also »geholfen« – mit Bananen, Altkleidung und Schuhen. Das war wohl das Zweipencestück, das Brecht meinte. In der Nacht vom 27. auf den 28. Januar 2021 wurden unter einer schwarz-grünen Regierung die Schülerin Tina, zwei weitere Schülerinnen und deren Familienangehörige nach Georgien und Armenien abgeschoben. Die Polizei musste eine Sitzblockade gegen die Abschiebung Demonstrierender auflösen. Diese Sitzblockade war wohl der halbe Penny. »Recht muss Recht bleiben«, hörte man dazu aus der Regierung.

Heute lese ich, die Volkspartei »halte an Abschiebungen nach Afghanistan fest«. Abschiebungen nach Afghanistan sind angesichts der politischen Lage dort Menschenrechtsverletzungen, da in Österreich die Europäische Menschenrechtskonvention gilt. Wo ist das Recht, das Recht bleiben muss? Wir sind wohl in Phase drei angelangt und übergeben die Menschen »kaltblütig der Polizei«. Wie haben die Helfer von 2015 im Jahr 2019 gewählt? ÖVP, FPÖ und Grüne halten 128 von 183 Sitzen im Nationalrat.

Entpolitisierung der sozialen Frage

Ich möchte die Hilfe des Einzelnen nicht abwerten. Die Hilfe aus Nächstenliebe hat allerdings einen Haken: Sie entbindet die Politik der Zuständigkeit und reduziert Menschlichkeit auf die ehrenamtliche Tätigkeit des Einzelnen. Der, dem geholfen wird, bekommt keine Rechte, keine strukturelle Unterstützung und er wird nicht ermächtigt, sich aus seiner Lage selbst zu befreien. Was er bekommt ist ein Almosen und man erwartet von ihm Dankbarkeit.

Die Entpolitisierung der sozialen Frage macht es möglich, dass Menschen einerseits freiwillig Flüchtlingen helfen, gleichzeitig aber rechte Parteien wählen. Sie macht es möglich, am Sonntag in der Kirche der Menschenfreund zu sein und schon zehn Minuten später nach Verlassen der Messe am Stammtisch des Gasthauses menschenfeindliche Politik zu unterstützen. Da ist sie: »die furchtbare Fähigkeit, sich nach eigenem Belieben gefühllos zu machen.«

Nicht vor meiner Haustüre

Der »erste Schrecken«, von dem Brecht spricht, war wohl 2015 der Moment, an dem Flüchtlinge an der österreichischen Grenze standen. Anstatt zu verstehen, dass Menschen seit Jahrzehnten für das Erdöl, das wir verbrauchen, sterben oder in Unterdrückung leben, dass Menschen seit Jahrzehnten mit den Waffen beschossen und getötet werden, die wir Terroristen und Unrechtsstaaten mit hohen Gewinnen verkaufen, brach eine Panik aus, deren politische Nutznießer nicht jene waren, die seit Jahrzehnten die Bekämpfung der Ursachen von Flucht fordern, sondern jene, die die Flüchtenden bekämpfen. Sie sagen dem Flüchtling: »Lass dich bitte zu Hause erschießen und steh nicht vor meiner Haustüre herum!« Wer aber von Verfolgung und Tod bedroht war, wird die Drohungen österreichischer Provinzpolitiker auch noch aushalten.

Jeder Österreicher, der in derselben Lage ist wie ein Flüchtling, dessen Familie von Tod, Krieg, Ausbeutung und Armut bedroht ist, würde handeln wie dieser Flüchtling. Er würde der Bedrohung entgehen wollen und alles tun, damit seine Kindern in einer besseren Umgebung groß werden können. Die Politik der regierenden Populisten richtet sich gegen Flüchtlinge. Sie sind die Ärmsten und Wehrlosesten und vor allem: Sie dürfen ohnehin nicht wählen. Was aber wird getan um Fluchtursachen zu bekämpfen, um die tägliche Zahl der Flüchtenden zu reduzieren? Nichts. Im Gegenteil: das Elend wird täglich vermehrt.

Pullover zurückbringen

75 Prozent aller Österreichischen Erdölimporte kommen aus Ländern mit autoritären Regimen und prekärer Menschenrechtslage. Die Konsumenten von Erdöl und Erdgas, und damit auch von Plastik, stützen also Unrechtsregierungen und tragen dazu bei, dass Menschen flüchten oder auswandern. Man kann diese Tatsache mit genaueren Zahlen und Statistiken belegen. Die Frage aber bleibt: Wann wird endlich gegengesteuert? Wann hören wir auf, mit diesem Staaten Handel zu betreiben, anstatt die oppositionellen Kräfte in diesen Ländern zu stärken und demokratische Verhältnisse zu forcieren?

Von den Regierungsparteien kommt dazu nichts, ganz im Gegenteil: Das Unterstützen von Diktatoren scheint gerade en vogue zu sein. Die »Hilfe des Einzelnen« erscheint in diesem Zusammenhang als Bigotterie. Es ist grotesk, dem Flüchtling aus Bangladesch den Pullover, den seine Kinder dort unter Sklavenbedingungen hergestellt haben, in gebrauchtem Zustand ins Flüchtlingsheim zu bringen und dafür auch noch seinen Dank zu erwarten.

Das Wertvolle ist der Bodensatz

Eine Politik der Menschlichkeit kann wie alle neuen demokratischen Bewegungen ihrer Ausgang nur außerhalb des Parlaments nehmen. Und sie wird sich auf die hartnäckigste Kraft des Menschen stützen müssen: die Weigerung. Erst wenn eine bestimmte Anzahl von Menschen, den Konsum bestimmter Waren verweigern wird, kann diese Bewegung eine Größe annehmen, die sich irgendwann politisch niederschlägt. Zuerst aber ist die Rebellion notwendig und sie muss damit einhergehen, Sozialpolitik und Almosen scharf zu trennen. Hans Pestalozzi schrieb: »In hierarchischen Strukturen kommt das Gute nie von oben. Obenauf schwimmt der Abschaum. Das Wertvolle ist der Bodensatz. Zu erkennen, welche Typen sich anmaßen, Macht über uns auszuüben, ist der erste Schritt zur Rebellion.«

Eine Sternstunde ist schnell vorbei. 2015 ist vorbei. Heute ruft eine Regierungspartei dazu auf, Geflüchteten geltendes Recht zu verwehren. Wo bleibt der Widerstand? Wo sind die Helfer von 2015? Die Menschlichkeit von 2015 war und bleibt ein Feigenblatt, das die Hässlichkeit und Rechtswidrigkeit der längst rechtsextrem und populistisch gewordenen schwarz-grünen Politik nicht verdecken kann.

Titelbild: APA Picturedesk

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