Jeden Samstag kommentiert Schriftsteller Daniel Wisser an dieser Stelle das politische Geschehen. Dabei kann es durchaus menscheln – it’s a feature, not a bug!
Daniel Wisser
Wien, 11. September 2021 | Die aktuellen Ausgabe der Zeitung Die Furche hat meinen heutigen Tag ruiniert. Ich wollte arbeiten, aber leider hat diese Zeitung mich fertig gemacht. Zuallererst ist sie zwar morgens in meinem Briefkasten gelegen, sie ist allerdings an einen gewissen Dr. Peter Huemer adressiert, der an einer ganz anderen Adresse wohnt. Und ich nehme an, dass es sich bei diesem Dr. Peter Huemer um jenen Publizisten und Historiker handelt, den wir vor allem als klugen und hoch gebildeten Moderator von Gesprächssendungen kennen.
Als Nächstes lese ich in der Kolumne von Daniela Strigl meinen Namen. Sie zitiert eine Szene aus meinem Roman Wir bleiben noch. Schmeicheleinheiten am Morgen, das kann man gebrauchen. Es geht in Strigls Artikel allerdings um Freundlichkeit und Unfreundlichkeit im Nahverkehr von Wien und Hamburg. Nun, zumindest was Wien betrifft, bin ich darin einer von 1,9 Millionen Experten.
Burn On
Dann aber – schön langsam komme ich zum Punkt – finde ich eine Sachbuchbesprechung von Martin Tauss. Er rezensiert ein neues Buch von Bert te Wildt und Timo Schiele (der eine Arzt, der andere Psychologe) mit dem Titel Burn On. So schlagen sie vor, jenes Überlastungsphänomen zu nennen, bei dem Menschen chronisch erschöpft sind, aber immer noch funktionieren, also nicht oder noch nicht beim Zusammenbruch, beim Burn Out angekommen sind. Ich habe darüber 2011 den Roman Standby geschrieben, gehöre also auch hier zu den Millionen Experten. Das Buch bringt die zu erwartenden Fälle von Erschöpfungsdepressionen mit der Coronakrise in Verbindung und leistet damit einen ganz aktuellen Beitrag zur Debatte.
Ich habe das Buch noch nicht gelesen, werde es aber bestellen. (Hoffentlich wird es durch Überlastung der Post nicht Peter Huemer zugestellt statt mir). Ich habe aber schon vor einigen Wochen einen Artikel begonnen – und nie fertiggestellt -, der Das Zeitalter der Erschöpfung heißt. Er war für die Kolumne zu kurz, aber jetzt, wo ich ihn mit Anekdoten über falsch zugestellte Zeitungen aufblasen kann, passt er ganz gut.
Mittelfinger
Ich kann mich noch sehr gut an den März 2020 erinnern, den Beginn der ersten Coronawelle. Damals sagten viele zu Schriftstellerinnen und Schriftstellern: Ist doch super für Euch, jetzt müsst ihr zu Hause sitzen und schreiben. Ich lasse hier Raum dafür, was sich die Angesprochenen dabei gedacht haben – es gibt auch ein Emoji dazu, das einen Mittelfinger darstellt.
Gestern bei Telefonaten mit zwei Menschen aus dem Literaturbetrieb, fiel zwei Mal der Satz Wir sind alle vollkommen überlastet. Der Argwohn, der mich dabei befällt, betrifft nicht den Einzelfall, sondern die Verallgemeinerung. Ist das denn wirklich so?
Zurecht frustriert
Man weiß, wer in der Pandemie wirklich gefordert und überfordert ist: Die Pflegekräfte, Ärzte und Betreuer, deren notorische Unterbesetzung und Unterbezahlung seit Jahrzehnten keine politische Partei zum Handeln gebracht hat (Nein, auch nicht die Sozialdemokratie und die Grünen!). Gerlinde Pölsler hat darüber einen Artikel im aktuellen FALTER geschrieben. Er heißt Österreichs stille Schande und jede und jeder sollte ihn lesen.
Für alle, die im Gesundheitssystem arbeiten, kommt dazu, dass viele Operationen während einer Coronawelle verschoben werden, das heißt, dass nach dem Abflauen der Welle, noch mehr Arbeit auf das Gesundheitspersonal zukommt. Diese Menschen sind überfordert und sie sind zurecht frustriert, wenn die Politik zu zögerlich handelt und Menschen in diesem Land sich weigern, auf andere Rücksicht zu nehmen.
Überfordert sind die Eltern von Kindern, die nicht wissen, wie sie im Fall eines Lockdowns Arbeit und Kinderbetreuung managen sollen. Und das, während nicht zu wenige Menschen in diesem Land gerade nichts anderes zu tun haben, als denen, die etwas tun, um die Erkrankungszahlen im ganzen Land zu senken, zu erklären, sie würden durch Maßnahmen und Impfung ihrer Freiheit beraubt.
Es geht auch ohne
Hinter Erschöpfung kann nicht einfach nur viel Arbeit stecken. Denn sonst wären die Erschöpften dieser Welt jene Kinder in Indien, die 15 Stunden am Tag arbeiten und danach ohne Decke oder Polster auf Steinböden schlafen müssen, jene Textilarbeiter in Bangladesh, die für einen Hungerlohn die Schuhe und Pullover herstellen, die wir im Internet bestellen und dann zurückschicken, weil sie nicht passen, jene Kinder, die in der Demokratischen Republik Kongo als Sklaven in Kobalt-Minen schuften, damit wir Lithium-Ionen-Akkus haben. Ist einer von ihnen erschöpft, wird er ausgetauscht und niemand erfährt von seinem Schicksal.
Ich denke, dass hinter dem Burn Out und auch dem Burn On, eine gewisse Frustration, eine Ziellosigkeit stecken muss. Und ich frage mich, ob nicht viele Betriebe durch Stützungen die Coronakrise bisher sehr gut übertaucht haben und die Gefahren nicht andere sind; nämlich, dass wir den Schluss ziehen, dass wir das, was es vor den Lockdowns gab, ohnehin nicht brauchen, weil wir darauf während der Lockdowns verzichten konnten. Das ist eine reale wirtschaftliche Gefahr. Die Geschäftsführer und Controller der Betriebe haben längst ihre Spreadsheets erstellt. Ihr Argument: Wir haben gesehen, dass es auch ohne geht.
Die Welt, wie sie vorher war
Ich möchte, dass wieder Buchmessen stattfinden, von mir aus mit 1G-Regel und Masken. Wenn man im Juli Fußballstadien mit Tausenden Menschen füllen durfte, warum kann es keine Buchmessen geben? Ich verstehe es nicht. Und es schädigt mich. Und nein: Eine Zoom-Konferenz ist für mich kein Ersatz für eine persönliche Begegnung.
Wir alle sind dazu angehalten, die Welt, wie sie vorher war, wieder zum Laufen zu bringen. Wenn ich mir in Innsbruck ein Hotelzimmer nehme und mir auf meine Frage nach dem Zimmerservice der Rezeptionist zeigt, wie ich bei Lieferando bestellen kann, dann ist frage ich mich, ob nicht manche die Coronakrise als Vorwand benutzen. Burn On, You Crazy Vier-Stern-Hotel. Vielleicht ist das eine Geschäftsidee: eine Buchhandlung zu eröffnen, in der es keine Bücher gibt, sondern einer der Buchhändler zeigt, wie man die Seite von Amazon aufruft.
Geht die Welt von früher völlig zugrunde? Wahrscheinlich nicht ganz. Und hat Dr. Peter Huemer vielleicht mein Exemplar der Zeitung Die Furche bekommen? Seines habe ich jedenfalls schon ausgelesen.
Titelbild: APA Picturedesk