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Pilz am Sonntag – Ohne Kurz regieren

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Pilz am Sonntag

Mit einer Anklage der WKStA wird Kanzler Kurz zur Lame Duck – der lahmen Ente. Ein Kanzler, der nur noch ums Überleben kämpft, kann Österreich nicht regieren. Der Ausweg liegt in einer Übergangsregierung ohne Kurz.

Wien, 26. September 2021 | In Rom kämpft Mario Draghi rund um die Uhr. Sein größter Erfolg ist eine COVID-Impfrate der über 12-Jährigen von mehr als 80 Prozent. Draghi ist in seinem wichtigsten Kampf erfolgreich: gegen die Pandemie. Der italienische Regierungschef kämpft für Italien.

In Wien kämpft Sebastian Kurz auch rund um die Uhr. Sein größter Erfolg ist, dass er und sein engster Vertrauter im Finanzministerium noch im Amt sind. Kurz weiß noch nicht, ob er seinen wichtigsten Kampf gewinnt: gegen die drohenden Anklagen der WKStA. Der österreichische Regierungschef kämpft um sein Überleben.

Unter massivem Druck der ÖVP hat Alma Zadic als Justizministerin ihrem Kanzler einen Wunsch erfüllt: Kurz wollte nicht vom zuständigen Staatsanwalt der WKStA einvernommen werden. So saß der Kanzler am 3. September 2021 vor einem Richter. Kurz konnte nicht verhindern, dass der Staatsanwalt neben dem Richter saß.

Fünf Stunden lang schimpfte ein weinerlicher Kanzler vor sich hin. Für Kurz ging es um einen entscheidenden Punkt: Im Gegensatz zu seiner Aussage im U-Ausschuss hat er persönlich die türkise Günstlingswirtschaft in ÖBAG und Casinos kommandiert. In meinem Buch über das „Regime Kurz“ habe ich das dokumentiert:

  • wie Kontrollfreak Kurz im Bundeskanzleramt jede Personalentscheidung über seinen Tisch gehen ließ;
  • wie Kurz in Fällen wie seinem Förderer „Sigi Wolf“ dabei ständig schwankte;
  • und wie er seinen Koalitionspartner FPÖ dabei über den Tisch zog.

“Was wäre ich denn für ein ‘Würschtel’ als Bundeskanzler, wenn ich den Sigi Wolf will, und er wird es nicht?” Der Kurz-Versuch, sich in der Einvernahme aus der Wolf-Affäre heraus zu schwindeln, klingt verzweifelt. Kurz weiß, was er getan und was er im Ibiza-Ausschuss dazu gesagt hat. Das dünne Eis, auf dem der Kanzler als Beschuldigter tanzt, droht zu brechen.

„Ich weiß nicht, wie Sie mich einschätzen, aber ich bin kein Vollidiot“. Als Kurz das dem Richter sagt, weiß er wohl, dass nicht nur er selbst rückblickend seine Herzerl-Chats mit Thomas Schmid und Gernot Blümel für verheerende Dummheiten hält.

Lame Duck Kurz

Sebastian Kurz ist durch die Ermittlungen der WKStA zur lahmen Ente geworden. Auch er stellt jetzt fest: Mit der Schlinge um den Hals lässt sich nicht regieren. In Zeiten von Pandemie, Klimawandel und sozialen Krisen kann der Kanzler Österreich nicht schützen, weil er nur noch für seinen eigenen Schutz Zeit hat.

In den nächsten Wochen hängt vieles an der Justizministerin. Sachlich spricht alles für eine Anklage gegen Kurz. Aber mit dem Weisungsrat im Justizministerium steht noch eine Hintertür zur Niederschlagung der WKStA-Anklage offen. Wenn Zadic ein zweites Mal dem Kanzler ein Privileg gönnt, wird es auch für sie eng.

Aber selbst ein „Daschlogn“ der ersten Anklage bringt Kurz nur Zeit. Dahinter wartet ein zweites, weit größeres Verfahren. Wenn die Ermittlungen im Jahr 2022 abgeschlossen sind, wird die WKStA entscheiden, wer wegen Amtsmissbrauchs, Verrat von Amtsgeheimnissen, Bestechung und Bestechlichkeit angeklagt werden soll. Niemand weiß, ob sich Blümel oder Kurz unter den Angeklagten im großen Ibiza-Prozess finden. Aber alle wissen, dass es da um alles geht.

Übergang ohne Kurz

Solange das WKStA-Schwert über Sebastian Kurz hängt, kann er nicht regieren. Kurz will auch von der Anklagebank aus weiter Kanzler bleiben. Aber er kann nicht. Daher geht es im Falle der Kurz-Anklage um die Antwort auf eine einfache Frage: Soll Österreich regiert werden?

Die Antwort der ÖVP scheint klar: „Im Ausland wird nur auf der Regierungsbank regiert. Mit Sebastian Kurz hat Österreich den ersten Bundeskanzler, der von zwei Bänken aus regiert!“ Aber was sagen die anderen Parteien?

Sie alle wissen, dass es kurzfristig nur einen Ausweg gibt: eine Übergangsregierung ohne Kurz und ÖVP. SPÖ, FPÖ, Neos und Grüne haben zwei gemeinsame Aufgaben:

  • Sie schützen Rechtsstaat und Pressefreiheit
  • Und sie sorgen dafür, dass die Regierung wie in den Nachbarländern Schutz gegen die Pandemie schafft.

Dazu einigen sie sich auf wenige Punkte:

  1. Die Strafverfolgung höchster Politiker wird nicht mehr behindert. Alle Ibiza-Anklagen der WKStA werden genehmigt.
  2. Das Korruptions-Strafrecht wird verschärft. Illegale Parteienfinanzierung und Parteibuchwirtschaft kommen als kriminelle Delikte ins Strafgesetzbuch.
  3. Der ORF wird eine Stiftung nach Vorbild der britischen BBC – und so dem Parteieneinfluss entzogen.
  4. Die Presseförderung wird dem Regierungseinfluss entzogen.
  5. Durch Maßnahmen der Regierung wird die Bevölkerung in Österreich mindestens gleich gut wie in Italien gegen COVID geschützt.

Wenn diese Hausaufgaben von Rechtsstaat und Pressefreiheit erledigt sind, wird gewählt. Es ist unwahrscheinlich, dass Sebastian Kurz nach zwei Jahren ohne Schutz durch seinen Innenminister, ohne hunderte Millionen für Regierungspropaganda und ohne einen türkisen ORF noch eine wahrnehmbare Rolle spielt.

Grünes Zünglein

Für diesen Neuanfang müssen alle vier Parteien über ihre Schatten springen. Für SPÖ, FPÖ und Neos sollte das kein Problem sein. Es geht um die Grünen: Werden sie in dieser großen Entscheidung gemeinsam mit den anderen die Interessen unseres demokratischen Rechtsstaats über ihr Parteiinteresse stellen? Oder sind sie bereit, Kurz bis zum Schluss zu folgen?

Wahrscheinlich wird das die wichtigste Entscheidung in der Geschichte der Grünen werden. Auch für sie geht es jetzt um alles.

Titelbild: APA Picturedesk

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