Dienstag, Juli 22, 2025

Skylla & Charibdis: Die Welt, die wir kannten

Verdrängung kann beruhigen. Ab einem gewissen Grad ist sie zersetzend. Die Welt, die wir kannten, ist nicht mehr.

Julya Rabinowich

Wien, 18. April 2022 | Es ist Osterzeit. Es geht um Leben und das Feiern des Lebens. Es geht um religiöse Feste aller Art, denn dieses Jahr fallen einige auf dasselbe Datum. Man könnte davon ausgehen, dass es die Erkenntnis unterstreichen sollte, dass wir alle eins und alle Menschen sind. Menschen mit Hoffnungen, Ă„ngsten, Sorgen und WĂ¼nschen. Die sich nicht rasend voneinander unterscheiden. Wir wollen leben, unsere Liebsten in Sicherheit wissen und die Welt nicht am Rande der Selbstvernichtung.

Wenn wir Kinder haben, hoffen wir fĂ¼r sie auf ein besseres Leben. Wenn wir Eltern haben, hoffen wir auf ihr Altern in Sicherheit und WĂ¼rde. Aber ungeachtet dieser Hoffnungen und WĂ¼nsche eskaliert die Lage an mehreren Orten gleichzeitig. In Jerusalem. In der Ukraine. Die Blutflecken auf diversen UntergrĂ¼nden sehen in jedem Ort der Welt gleich aus. Die Möglichkeit eines nuklearen Schlages schwebt Ă¼ber den Osterpinzen und den Schokohasen, den bunten ausgeblasenen Eiern auf Palmkätzchensträuchen. Das Schweigen der Gefolterten, die Berichte der Augenzeuginnen Ă¼bertönt GlĂ¼ckwĂ¼nsche.

Der Krieg, der sich jetzt offen zeigt, ist nicht neu. Er ist jetzt nur vollends offenbart. Entschleiert. Unsere Welt hat sich unaufhaltsam und rapide verändert. Man will es nicht so recht wahrhaben, diese Veränderung macht Angst und erschĂ¼ttert alles, was bis dahin gewisses GefĂ¼hl der Sicherheit nährte. Diese Veränderung will also verdrängt werden.

Verdrängung sichert zwar bis zu einem gewissen Grad das eigene Ăœberleben, gefährdet es allerdings ab einem anderen gewissen Grad wieder. Wer mit Warlords wie Putin verhandeln will, setzt offenbar voraus, dass sein Wort GĂ¼ltigkeit besitzt. Und das wird vorausgesetzt wider besseres Wissen. Weil es selbstverständlich beruhigender ist, die Vorstellung zu haben, dieser Krieg und dieser Kriegsherr seien noch auf irgendeine Art und Weise rational behandelbar. Rational im Sinne einer Demokratie, im Sinne einer Diplomatie, die bestimmten Zugeständnissen und Regeln folgt. Rational klingt immer gut im Rahmen einer nuklearen Bedrohung.

Dann blickt man nach Butscha. Und muss daran denken, was in anderen Orten noch auf Ă–ffentlichkeit wartet oder vielleicht nie gefunden werden wird. Nur die Namen der Vermissten werden eine Zeitlang nachhallen.

Und was sagen Menschen in Russland zu den Entwicklungen? Es ist Ostern, und ich nehme Kontakt auf zu Menschen, die in Russland leben, wie immer zu Ostern. Wie immer zu Pessach. Die einen sind entsetzt, beschämt, verängstigt. Manche wollen Widerstand zeigen, aber sie sind in der Minderzahl, und je länger das so ist, desto gefährlicher ist es fĂ¼r jeden einzelnen von ihnen. Manche habe das Land längst verlassen: Ă¼bereilt, ohne groĂŸer Pläne, ohne groĂŸer Aussichten. Die anderen aber, und das sind die bedrĂ¼ckenderen Unterhaltungen, sind fest von dem Ă¼berzeugt, was die russischen Propaganda-TV-Kanäle bieten. Die Entnazifizierung der Ukraine läuft. Europa hasst die Russen. Das Kriegsschiff hat sich zwar selbst versenkt, aber die Russen mĂ¼ssen dafĂ¼r nun Rache Ă¼ben.

Das Schrecklichste an diesen Unterhaltungen ist, dass man mit Logik nicht durchkommt. Noch schrecklicher, wenn man diese Unterhaltungen mit Menschen fĂ¼hren muss, die einem Ă¼ber Jahrzehnte ans Herz gewachsen sind, die man von klein auf kannte. Dabei ist der Bildungsgrad relativ egal. Die WidersprĂ¼che, die so offensichtlichen WidersprĂ¼che, werden beiseite gewischt. Verdrängung kann beruhigen. Ab einem gewissen Grad ist sie zersetzend. Die Welt, die wir kannten, ist nicht mehr.

Titelbild: APA Picturedesk

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