Pandemiemanagement:
ZackZack hat mit dem Psychologen John Haas darüber gesprochen, was die Pandemie mit uns Menschen und mit unserer Gesellschaft gemacht hat, welche Herausforderungen neue Krankheitsausbrüche – wie jüngst die Affenpocken – mit sich bringen und was wir brauchen, um zu einer neuen Normalität zu gelangen.
Wien, 16. Juni 2022 | Der Diplompsychologe und FH-Lektor John Haas hat im November 2020 sein Buch „Covid-19 und Psychologie: Mensch und Gesellschaft in Zeiten der Pandemie“ veröffentlicht. Darin fasste er den aktuellen Forschungsstand für den deutschsprachigen Raum zusammen und beleuchtete das Thema aus verschiedenen Perspektiven. Mit dem jüngsten Aufkommen der Affenpocken begann er, sich mit der Perspektive einer möglichen neuen Pandemie auseinanderzusetzen.
ZZ: Herr Haas, was hat die Corona-Pandemie mit uns Menschen und unserer Gesellschaft gemacht?
Haas: Diese Pandemie hat unser Gesundheitsverhalten und unser Bedrohungserleben dermaßen verändert, dass wir zu wenig Kraft haben, uns als Gesellschaft noch kollektiv im Sinne verringerter Ansteckungen zu verhalten. Den Menschen fehlen einfach die Ressourcen, die Warnungen zu beherzigen, weil sie von Covid durch so widersprüchliche Botschaften desinformiert sind.
Die große Gefahr ist – und das ist jetzt die erste Erkenntnis meiner aktuellen Arbeit zu den Affenpocken –, dass eine zusätzliche Pandemie von den Menschen wahrscheinlich gar nicht mehr als so bedrohlich aufgefasst werden würde. Dadurch sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass sie entsprechende Maßnahmen treffen.
ZZ: Die Affenpocken haben jetzt aber doch eine gewisse Besorgnis bei einigen Menschen ausgelöst.
Haas: Genau, der Fokus ist eingerichtet, aber auf der anderen Seite fehlt uns die Kraft, uns entsprechend zu verhalten. Unsere Gesellschaft unterliegt nicht nur aus virologischer Sicht einem Wandel, sondern auch in der Sicht der Menschen, dass mit Covid-19 offenbar das Zeitalter der übertragbaren Krankheiten in großem Stil begonnen hat.
ZZ: Wieso sehen Sie gerade Corona als Ausgangspunkt für dieses neue Zeitalter?
Haas: Die Warnung vor lang andauernden Pandemien haben Forscher schon Mitte der 90er-Jahre ausgesprochen, vor dem Hintergrund des Ausbruchs von Ebola, Hantavirus (Anm.: in den USA in den 1980er-Jahren) et cetera. Nur hat es keiner ernst genommen. Beim Aufkommen der Vogelgrippe 2005 hat man gesagt, das könnte „the next big thing“ werden. Die damalige Gesundheitsministerin Maria Rauch-Kallat hat Millionen Schutzmasken eingekauft. Jahre später wurde darüber gehöhnt, dass sie das getan hatte. Covid hat realisiert.
Wir haben nicht nur ein biologisches Abwehrsystem, sondern auch ein psychologisches. Aus der Evolution heraus haben wir gelernt, uns von Menschen fernzuhalten, die Krankheitsanzeichen zeigen, oder sie sogar zu bekämpfen.
ZZ: Was für Herausforderungen kommen nun gesellschaftlich mit den Affenpocken auf uns zu?
Haas: Eine Erkenntnis meiner Arbeit ist, dass bestimmte Symptome gewisse Verhaltensweisen begünstigen. Wir haben nicht nur ein biologisches Abwehrsystem, sondern auch ein psychologisches. Aus der Evolution heraus haben wir gelernt, uns von Menschen fernzuhalten, die Krankheitsanzeichen zeigen, oder sie sogar zu bekämpfen. Je sichtbarer die Krankheitsanzeichen auf der Körperoberfläche sind, desto stärker ist die Meidung der davon Betroffenen. Durch die Affenpocken bekommen die Leute jetzt diesen Ausschlag. Das weckt in uns Urängste.
ZZ: Wozu führen diese Urängste?
Haas: Eine Form der Meidung ist die Stigmatisierung, nämlich, dass ich diesen Menschen zuschreibe, dass sie durch ihre Verhaltensweisen Böses getan haben und die Erkrankung sogar die Strafe für dieses Handeln wäre. Wir wissen natürlich, dass das nicht stimmt. Aber nachdem zu Beginn der Berichterstattung über die Affenpocken speziell Menschen mit homosexueller Veranlagung im Vordergrund gestanden sind, hat sich das eingebrannt. Und man sieht auch schon auf Social Media, wie Homosexuelle teilweise stigmatisiert werden und auch als Verursacher dieser Ausbreitung genannt wurden. (Anm.: Auch das stimmt nicht.)
ZZ: Das erinnert an das Aufkommen von AIDS, das ganz stark Männern zugeschrieben wurde, die Sex mit Männern hatten. Wieso haben wir die Tendenz, so etwas dann einer Gruppe anzuhängen?
Haas: Da passiert eine Projektion und eine Abspaltung. Die Gruppe ist endlich, im Gegensatz zum Kollektiv. Und dadurch, dass die Teilgruppe durch ein spezielles Verhalten oder durch Vorlieben identifizierbar ist, neigen wir dazu, die Belastung von uns auf die Gruppe zu verschieben – und auch die Verursachung. Das ist so eine primitive Form des Aberglaubens.
ZZ: Es nimmt einem wohl auch ein Stück weit selbst die Angst, betroffen sein zu können, wenn man nicht Teil der Gruppe ist, oder?
Haas: Genau.
Zweitens ist die Maske ein weithin sichtbares Symbol dafür, dass sich die Gesellschaft verändert hat. Da kommt sozusagen die Wehmut des Abschieds von dieser vielbeschworenen „Normalität“ dazu, die immer wieder herbeigesehnt wird.
ZZ: In dieser Pandemie gibt es stark eingreifende Schutzmaßnahmen, wie Ausgangsbeschränkungen und Quarantäne, und jene, die immer als „geringstes Übel“ bezeichnet werden, vordergründig der Mund-Nasen-Schutz. Wieso ist löst eine so kleine Sache bei einigen einen so starken Widerstand aus?
Haas: Das hat mehrere Gründe. Erstens werden Menschen durch den Mund-Nasen-Schutz gewisser Informationen beraubt, die sie während der Kommunikation senden. Und sie empfangen gewisse Anteile nicht. Zweitens ist die Maske ein weithin sichtbares Symbol dafür, dass sich die Gesellschaft verändert hat. Da kommt sozusagen die Wehmut des Abschieds von dieser vielbeschworenen „Normalität“ dazu, die immer wieder herbeigesehnt wird. Zuerst hat man geglaubt, Welle eins, das ist es dann, wir tragen brav die Maske. Mittlerweile hat sich der Pandemiehorizont aber erweitert. Manche sind nicht bereit und willens, das so lange mitzutragen.
ZZ: Gibt es auch positive psychische Effekte der Maske?
Haas: Die wissenschaftliche Evidenz sagt, dass Menschen, die Maske tragen, erstens einmal nicht nur besser geschützt sind, sondern dass es ihnen auch psychisch besser geht. Weil sie zeigen, dass sie zu einem kollektiv erstrebenswerten Ziel einen Beitrag leisten.
ZZ: Wir haben jetzt über zwei Jahre Corona-Pandemie hinter uns. Immer wieder gab es Kritikpunkte zur Kommunikation von Regierung und Institutionen. Wie haben Sie die Kommunikation beobachtet?
Haas: Am Anfang wurde die Gefahr überhöht. Je länger die Pandemie lief, desto lascher und stärker anlassbezogen wurde kommuniziert. Es wurde immer spät reagiert bis dann sozusagen der Sündenfall war, dass Omikron für „mild“ erklärt wurde und diese passive Durchseuchungsstrategie gefahren wurde. Das war eine Kapitulationserklärung der Bundesregierung gegenüber evidenzbasierter Pandemiebekämpfung.
ZZ: Wieso ist es zu dieser „Kapitulationserklärung“ gekommen?
Haas: Eine – aus meiner Sicht – Minderheit hat es durch massive Verhaltensauffälligkeit geschafft, präventive Maßnahmen vorrangig als Beraubung der Freiheit darzustellen und nicht im Sinne der Erreichung eines kollektiven Ziels. Und viele andere Staaten haben diese Kapitulationserklärung ebenfalls unterschrieben.
ZZ: Wurde im Laufe der Zeit bei der Kommunikation dazugelernt?
Haas: Man muss sagen, es wurde kaum etwas gelernt. Weder bei der Risikokommunikation noch bei der Art und Weise, wie die Impfung sozusagen beworben oder sympathisch gemacht wurde. Der größte strategische Fehler war die Impfpflicht, die dann keine war. Weil das heißt, dass die führenden Instanzen des Landes nicht der Überzeugung sind, dass eine Impfung das geeignete Mittel ist, eine Pandemie abzuwenden. Das war eine Bankrotterklärung.
ZZ: Wohin führt diese Art der Kommunikation?
Haas: Die Annahme der Maßnahmen hängt davon ab, wie klar und konsistent eine Institution die Wirksamkeit einer Maßnahme kommuniziert und wie hoch das Vertrauen in diese Institution ist. Entscheidend ist auch, welche soziale Nähe man subjektiv zu dieser Institution empfindet. Diverse Vertrauensindizes haben im Laufe der Pandemie gezeigt, dass das Vertrauen der Bevölkerung gesunken ist. Schwierig sind in dieser Hinsicht aber auch die überbordende Desinformation und die kursierenden Verschwörungstheorien über die Ursache oder Bekämpfung von Pandemien.
ZZ: Da sprechen Sie jetzt die „Infodemie“ an, der Sie sich auch in Ihrem Buch widmen. Ist die Corona-Pandemie historisch gesehen das erste Mal, dass sich dieses Phänomen beobachten ließ?
Haas: Das, was wir jetzt „Infodemie“ nennen, ist mit der Entwicklung des World Wide Webs verknüpft. Seit Beginn des World Wide Webs gab es irreführende oder unzuverlässige Gesundheitsinformationen. Die große Premiere der „Infodemie“ war eigentlich das Vogelgrippe-Auftreten 2005. Das war sozusagen der Probelauf. Da hat man gesehen, welch seltsame Formen der Darstellung der Gefährlichkeit der Erkrankung und der Maßnahmen dagegen prinzipiell entstehen können. Aber der Dammbruch war die Covid-19-Pandemie. Die Weltgesundheitsbehörde hat deshalb auch 2020 den Kampf gegen die „Infodemie“ ausgerufen und die nationalen Gesundheitsbehörden und Regierungen aufgefordert, mitzuhelfen.
ZZ: Wieso wurde auch der Kampf gegen die „Infodemie“ ausgerufen?
Haas: „Infodemien“ haben das Potential, eine Gesellschaft zu verunsichern und zu lähmen, weil die Leute nicht wissen, was richtig und falsch und was gut und schlecht ist. Ich glaube, dass „Infodemie“-Management eine der wichtigsten Säulen zur Aufrechterhaltung einer funktionierenden Demokratie auf der einen Seite und zur Förderung eines evidenzbasierten Gesundheitsverhaltens auf der anderen Seite ist.
Wir adressieren nicht nur die durch die Pandemie auflaufenden psychischen Probleme zu wenig, sondern auch jene, die durch Long Covid entstehen. Die Psyche wird weiterhin sträflich vernachlässigt und sogar dem wirtschaftlichen Geschehen untergeordnet.
ZZ: Sie haben geschrieben, dass die Psyche als Faktor in der Pandemiebekämpfung in der Vergangenheit oft übersehen wurde. Rückblickend auf zwei Jahre Corona: Hat die Psyche ausreichend Platz bekommen?
Haas: Nein, nicht einmal annähernd. In den Lockdown-Phasen hätten niedrigschwellige Angebote gemacht werden sollen, etwa noch stärkere Psycho-Edukation, bis hin zu entsprechenden Kontingenten von Hotlines und Betreuungsangeboten. Das gehört zu einer gelingenden Pandemie-Bekämpfung dazu. Da wurde stark gespart, wird weiterhin stark gespart. Wir adressieren nicht nur die durch die Pandemie auflaufenden psychischen Probleme zu wenig, sondern auch jene, die durch Long Covid entstehen. Die Psyche wird weiterhin sträflich vernachlässigt und sogar dem wirtschaftlichen Geschehen untergeordnet. Das zeigt für mich klar, welche Prioritäten herrschen.
ZZ: Viele hoffen auf eine Rückkehr zur Normalität. Hat diese Hoffnung eine Aussicht?
Haas: Die Hoffnung der Rückkehr zur Normalität ist ein stützender Gedanke. Sie wird aber wahrscheinlich nicht von selbst eintreten, sondern hat einen Preis. Die Gesellschaft muss einen Modus Operandi finden, vor dem Hintergrund der Einschränkungen durch die Pandemie oder ihre Bekämpfung bestmöglich Wohlbefinden zu generieren und möglichst wenige Krankheitsfälle zu riskieren.
Die Bürger müssen sich auch selbst ermächtigen, was die Bewertung von Gesundheitsinformationen betrifft. Da besteht von mir auch der Wunsch nach mehr digitaler Kompetenz in der Bewertung von Informationen und nach einem staatlichen Angebot, mit dem man niederschwellig und kurzfristig mehr Gesundheitskompetenz vermittelt. Digitale und Gesundheitskompetenz hängen im Pandemie-Fall und im Jahr 2022 stark zusammen.
ZZ: Wird es ein „wie vorher“ überhaupt geben? Oder müssen wir einfach lernen mit den neuen Gegebenheiten umzugehen, anstatt uns nach etwas zu sehnen, das vorbei ist?
Haas: Sowas sage ich ungern, aber Sie haben recht. Mir tut dieser Abschied auch weh.
John Haas ist diplomierter Psychologie und Unternehmer. Er arbeitet seit 2013 als Lektor an zwei österreichischen Fachhochschulen und unterrichtet Psychologie, Data Science und Future Studies. Aktuell arbeitet er an Projekten in den Bereichen digital health und Infodemiologie und hält regelmäßig Vorträge und Webinare zu psychologischen Themen.
Das Interview führte Pia Miller-Aichholz.
Titelbild: APA Picturedesk