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Blumen und Jauche – Skylla & Charybdis

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Blumen und Jauche – Skylla & Charybdis

Skylla & Charybdis

Vor kurzem wurde wieder ein prominenterer Krankheitsfall durch das Twitter-Dorf getrieben. Die Kranken, das sind die anderen. Und die sollen sich gefälligst zusammenreißen, weil es ja nicht so schlimm sein kann.

Julya Rabinowich

Wien, 22. Oktober 2022 | Vor kurzem wurde wieder ein prominenterer Krankheitsfall durch das Twitterdorf getrieben: Margarethe Stokowski hat gewagt, trotz ihrer Long Covid Erkrankung auch Dinge zu unternehmen, die ihr Freude bereiten: Brotbacken, ein kleines Tattoo, Getränkerezepturen. Die Häme ließ nicht lange auf sich warten. Ob ihre Kolumnen als kontrovers eingeschätzt werden oder nicht, tut hier absolut nichts zur Sache: jede und jeder hat das Recht darauf, eine chronische Erkrankung mit schönen Dingen zumindest psychohygienisch abzumildern – ungeachtet des eigenen Jobs, des öffentlichen Auftretens, der politischen Positionierung. Wie erbärmlich ist es, diese kleinen Freuden madig machen zu wollen?

Eine große Leistung

Stokowski steht mit solchen Maßnahmen keinesfalls alleine da, die Kosmetikfirma Estée Lauder setzt sich seit vielen Jahren dafür ein, dass krebskranke Frauen ein bisschen Zerstreuung beim Schminken finden, mehr noch: diese Handlungen sind eine Selbstermächtigung, eine Stärkung des Selbst, des Gefühls, wenigstens etwas Kontrolle über das eigene Leben weiterhin behalten zu haben. Dem Schicksal widerspenstig zu sein. Schrittchen für Schrittchen. Manchmal sind diese Schrittchen winzig. Beinahe mikroskopisch. Für jemanden, der im vergleichsweise rasenden Tempo der Gesunden unterwegs ist, vielleicht nicht wirklich wahrnehmbar. Einmal aufstehen, einmal das Haar hochstecken, einmal in den Spiegel lächeln. Was für Gesunde eine Beiläufigkeit darstellt, ein lächerlich unbedeutender Vorgang, kann für jemanden mit Long Covid, jemanden mit Depression, jemanden mit Chemotherapie eine große Leistung sein.

Eine ebenso große Leistung ist es, das jeden einzelnen Tag aufs Neue zu tun. Oder es wenigstens zu versuchen. Jeden Tag muss der im Körper tobenden Krankheit Lebensgefühl abgetrotzt werden. Es ist nicht einfach. Man macht es sich auch nicht einfach. Diesen Kampf zu dokumentieren ist eine Sache, ihn öffentlich zu teilen eine andere Entscheidung. Das Letztere hat Vor- und Nachteile: man bekommt viel zurück. An Blumen und an Jauche. Für manche ist eine solche Flucht nach vorne ein durchaus gangbarer Weg. Nichts daran ist verwerflich. Nichts daran sollte lächerlich gemacht werden. Wer das lächerlich findet, sagt vermutlich Schwerdepressiven auch, dass sie sich einfach zusammenreißen sollen. So wird eine Erkrankung, die bis an die Grundfesten des Seins rüttelt, lächerlich gemacht und damit noch stigmatisierender als sie es schon ist.

Desinteresse und fehlendes Mitgefühl

Dahinter steht einerseits Desinteresse und das Fehlen jeden Mitgefühls. Und hier könnte man natürlich etwas nachhaken. Wenn man es schon so nötig hat, sich abzugrenzen, um keine Emotionen aufkommen zu lassen, drängt sich die Frage nach dem Warum auf. Am Ende spielt wohl doch die Angst vor dem Verlust der eigenen Vitalität eine tragende Rolle. Die Angst vor dem Tod, die wir alle teilen – manche bewusster, manche verdrängter. Das Pendeln zwischen Lebenstrieb und Thanatos führt zu einem interessanten Paradoxon. Die Kranken, das sind die anderen. Und die sollen sich gefälligst zusammenreißen, weil es ja nicht so schlimm sein kann. Und gleichzeitig still und freudlos leiden, weil es so schlimm ist.

Titelbild: ZackZack

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