Alexander Van der Bellen hat in Bregenz eine wichtige Rede gehalten. Es war die falsche. Teil 1 der Van der Bellen-Debatte.
Wien | Gleich, nachdem er die Schnurre seines steckengebliebenen Zuges erzählt hat, macht Van der Bellen bei seiner Rede zur Eröffnung der Bregenzer Festspiele klar, was das Publikum erwartet: zerbrochene Fenster. In einer amerikanischen Theorie eben dieser Fenster sei festgestellt worden, dass dort, wo eines zerbricht und nicht sofort repariert wird, oft andere brechen. Am Ende ist das Viertel, in dem anfangs nur ein Fenster kaputt war, verwüstet. Der Appell des Präsidenten ist einfach: Schützen wir uns vor den Fensterbrechern!
Dann kommt die Botschaft. Die Fensterbrecher sind die „Populisten“. Van der Bellen warnt eindringlich: „Populismus holt nicht das Beste aus den Menschen hervor, sondern das Niedrigste.“
Wer sind die „Populisten“? Der Präsident macht es schnell klar: „Wir dürfen uns nicht daran gewöhnen, dass wieder von einem „Wir“ und „den Anderen“ gesprochen wird. „Wir“ – das sind die Normalen, das sind „unsere Leut“, das ist das „Volk“, aber was sind dann die anderen?“ Die „Normalen“ – das stammt von Johanna Mikl-Leitner. Das „Volk“ mobilisiert Herbert Kickl. Doch Van der Bellen hat mehr im Visier. „Diese Zitate werden nicht nur von den üblichen Verdächtigen verwendet, es scheint so, als würden sich verschiedene Parteien ein Vorbild aneinander nehmen.“ Er meint Andreas Babler. „Unsere Leute“, das kommt von ihm. Plötzlich sitzt der SPÖ-Chef als Fensterbrecher neben Kickl.
Zerbrochene Fenster im Villenviertel
Wohl unabsichtlich hat der Präsident klargemacht, dass aus seiner Sicht die „Populisten“ die „Anderen“ sind. Auch er kommt in Bregenz ohne „Wir“ und „Sie“ nicht aus. Den einfachen Schluss, dass unterschiedliche Interessen unterschiedliche Positionen begründen und das große Interessengegensätze zu Polarisierungen führen, mutet er seinem Publikum nicht zu. Er weiß, wer vor ihm sitzt.
Er weiß auch: Im Villenviertel wird das zerbrochene Fenster sofort repariert. In ärmeren Vierteln fehlt immer öfter das Geld für Glas und Glaser. Dort zerbrechen nicht nur Fenster, sondern Familien und ihre Hoffnungen. Der Ökonom Van der Bellen versteht, dass das viel mit Verteilung zu tun hat, zwischen „oben“ und „unten“. Aber er spricht es nicht an.
„Wir oben“
Der Präsident führt auf eine falsche Spur. Die zunehmenden Konflikte sind kein Problem der „Sprache“. Warum sollen wir nicht darüber sprechen, dass es „die Anderen“ gibt? Sie zahlen keine Vermögenssteuern und schlüpfen von Gewinnsteuern bis Umsatzsteuern durch unzählige Steuerlöcher. Sie scheren sich nicht um die wachsende Armut, weil sie nur ihren wachsenden Reichtum sehen. Sie nehmen von COVID-Hilfen bis Regierungsinseraten, was sie kriegen können. Einen kleinen Teil geben sie wieder zurück – als Parteispenden an ÖVP und FPÖ, die beiden Parteien, die garantieren, dass alles so bleibt.
„Oben“ gibt es das „Wir“ schon immer. Dieses „Wir“ ist von Industriellenvereinigung bis Raiffeisen gut organisiert. Mit dem Boulevard hat es Lautsprecher, die denen „unten“ eintrichtern, dass eine Millionärssteuer vor allem kleine „Häuslbauer“ und großelterliche Sparstrümpfe trifft.
„Wir unten“
„Unten“ sieht es anders aus. Unter dem Banker Franz Vranitzky hat die Sozialdemokratie ihr „Wir“ verlernt. Andi Babler versucht, es seiner Partei zurückzugeben und wird dafür vom Präsidenten mit dem rechtsnationalen Hetzer Herbert Kickl in einen Topf geworfen. Das ist nicht Populismus, sondern etwas ganz anderes: eine verzerrende und diffamierende Darstellung der Wirklichkeit. Ich würde gerne wissen, welchen Begriff Van der Bellen dafür finden würde.
Aber warum stellt Van der Bellen Kickl und Babler auf eine Stufe? „Populismus will ausgrenzen, die da oben, die da unten. Populismus will Probleme finden und vergrößern. Er will, dass sie bleiben, weil diese Probleme den Populisten dabei helfen, Emotionen zu schüren.“ Im Fall „Kickl“ hat er recht. Rechte Populisten wollen Probleme statt Lösungen, weil der Hass der Enttäuschten der Treibstoff für ihre Politik ist. Aber Babler und seine Partei machen konkrete Vorschläge. Von gerechteren Steuern und Armutsbekämpfung bis zu Arbeitszeit, Gleichberechtigung und Bildung will die SPÖ konkrete Reformen. Jetzt mobilisiert sie erstmals wieder dafür – und muss sich von Van der Bellen sagen lassen: „Sie tragen zum Zerbrechen einer Gemeinschaft bei.“
Nehammer umschifft
Der Präsident warnt vor der Gefährdung der „liberalen Demokratie“. Dazu zeigt er warnend nach Budapest. „Sonst steuern wir auf eine Autokratie zu. Wir können weiter im Osten beobachten, dass das relativ schnell geht.“ Karl Nehammer sitzt neben Werner Kogler in der ersten Reihe. Wird der Präsident jetzt auf den roten Teppich, den Nehammer kürzlich dem ungarischen Autokraten ausgerollt hat, eingehen? Wird er vor dem Dreibund gegen die EU, den Serbien, Ungarn und Österreich in Wien gefeiert haben, warnen? Wird er Nehammer ansprechen, weil er gemeinsam mit Orbán und Serbiens Aleksandar Vučić dem Putin-Regime Hintertüren offenhält?
Der Präsident umschifft den Kanzler. Die schlechten Populisten – das sind Kickl und Babler. Nehammer kann erleichtert applaudieren. Werner Kogler sitzt neben ihm. Auch er kann zufrieden sein. Seine Grünen sind brav und ganz nach dem Geschmack des Präsidenten.
Was ist drin für uns?
Es gibt einen guten zweiten Teil der Rede. „Was ist drin für uns?“ Van der Bellen stellt diese Frage für alle. Was profitiert der Einzelne von Klimaschutz, Gerechtigkeit und Demokratie, von Einwanderung und Schutz aller Minderheiten? Der zweite Teil zeigt, dass der Präsident weiß, dass man „die Menschen“ abholen muss. Er will, dass die Politik mit ihnen in Ruhe sachliche Lösungen erörtert. Aber eine Gesellschaft, in der auf Grund des Versagens der Regierung die Risse immer größer werden, ist kein Seminar. Da geht es nicht nur um Lösungen, sondern auch um Interessen. Die „unten“ und die „oben“ wissen, dass Einkommen, Belastungen und Lebenschancen entweder fairer verteilt werden – oder nicht.
Gute Politik muss dazu Anwältin sein und mobilisieren. Im Kern der Mobilisierung steht ein „Wir“, das „Wir“ derer, die es gemeinsam schaffen wollen. Wenn ihnen der Präsident dieses „Wir“ nimmt, haben „die Anderen“ gewonnen.
Ich kenne Van der Bellen lange genug und weiß, dass er diese Rede nicht für Nehammer, Sobotka und Kogler gehalten hat. Er will als Präsident über den Dingen stehen. Die Gefahr, dass er damit einfach daneben stehen könnte, war ihm wohl nicht ausreichend bewusst.
Nachtrag um 11.20 Uhr: Bundeskanzler Nehammer hält Van der Bellen entgegen, dass “Schnitzel erlaubt sein muss”. Ich befürchte zweierlei:
- dass Nehammer einen Schnitzelklopfer hat und
- dass das “normal” ist.
Titelbild: DIETMAR STIPLOVSEK / APA / picturedesk.com, EXPA / APA / picturedesk.com, TOBIAS STEINMAURER / APA / picturedesk.com, Montage ZackZack