Warum man den Begriff des „Normalen“ nicht ranzigen Provinz-Politikerinnen und hasserfüllten Schreihälsen überlassen sollte.
Manche Dinge sind so falsch, dass nicht einmal das Gegenteil richtig ist. Wenn Hanna Mikl-Leitner auf klebrig-provinzielle Weise alle, die so denken wie die ÖVP, zu „Normaldenkenden“ erklärt, und damit alle anderen zu Abnormalen oder zumindest zu schrägen Vögeln, wenn das, was vor vierzig Jahren als das Konventionelle galt, zum „Normalen“ deklariert wird, dann ist das eine Ungeheuerlichkeit, die richtigerweise umgehend zurückgewiesen wurde. Werner Kogler sprach von „präfaschistoidem“ Denken. Der Historiker Berthold Molden verwies auf die „gefährliche Kraft“ einer solchen Sprache, von Leuten, die deklarieren: Die Norm bin ich. Dann schlage bald, so Molden, die „Stunde der Blockwarte und Denunzianten“.
Der einzig normale Mensch
Was sich hier zur „Norm“ ausruft, ist ja das Gegenteil des implizit Behaupteten: Eine kleine Subgruppe will, dass die anderen nach ihrer Pfeife tanzen. Gerade weil sie wissen, dass sie nur eine Minderheit unter anderen sind, versuchen sie, Befehle auszugeben. Man behauptet schlicht, die „einzige Verkörperung einer allgemeinen Norm anständigen Lebens und vernünftigen Denkens zu sein“ (Molden), und weiß zugleich, dass sich das jedenfalls auf keine Empirie oder sonstige Realität stützen kann, denn den großen, hegemonialen Mainstream konventioneller Lebensführung gibt es heute nicht mehr. Molden beschreibt diese „Begriffsparadoxie“ am herrlichen Beispiel seiner Großmutter, die gelegentlich ausrief: „Ich bin der einzige normale Mensch!“ Auch sie wird geahnt haben: Wer als einzige normal ist, die ist es definitionsgemäß gerade nicht.
Gesellschaft ist ein Patchwork von Minderheiten
Aber da manche Dinge so falsch sind, dass nicht einmal ihr Gegenteil richtig ist, heißt das noch lange nicht, dass man sich vom Begriff der „Normalität“ verabschieden sollte, die Vorstellung des „Normalen“ zu verwerfen wäre. Verlockend ist, das schöne Lied von der Verschiedenheit zu singen. Dass das einzig Normale heute sei: dass wir alle unterschiedlich sind.
Das ist natürlich empirisch der Fall: Heutige Gesellschaften sind in lebensweltlicher Hinsicht äußerst verschieden, die Menschen haben signifikant unterschiedliche Werte und Normen, sie pflegen eine unterschiedliche Lebensführung, dazu kommt die ethnische Diversität moderner Gesellschaften und die kulturellen Differenzen zwischen Generationen, Stadt und Land etc.
Sie ist aufgespalten in Peer-Groups, Lifestyle-Communities, in Lebenskulturgemeinschaften, in Milieus und Submilieus. Niemand ist die Mehrheit, niemand die Norm, wir sind alle Minderheiten. Gesellschaft ist das „Patchwork von Minderheiten“ (Lyotard). In der Werbung heißen diese jeweiligen Gruppenkollektive dann „Zielgruppen“.
Wenn niemand Durchschnitt sein will
In den vergangenen Jahrzehnten ist das „Normale“ sowieso aus der Mode gekommen, weil niemand Durchschnitt sein will. Mehr als das, die herrschende Ideologie ruft dir täglich zu: Arbeite an deiner Individualität, die dich von anderen unterscheidet. Bemühe dich darum, die beste Version deines Selbst zu schaffen. Schon die Kleinsten saugen es auf, etwa mit der herzigen Geschichte vom „Kleinen Ich-bin-Ich“, dem Tierchen, das keinem anderen gleicht, lange todunglücklich ist, dann aber erkennt: Es ist nicht irgendwer, es ist ich. Der Neoliberalismus trichtert den Menschen ein, die Besonderheit sei das erstrebenswerte Ziel. Aber auch die akademische Linke tat das mit ihrem Kult der Differenz. Normalität, schrieb Matthias Dusini im „Falter“, hat „keinen guten Ruf. Und dennoch wäre es falsch, den Kampf um seine Bedeutung aufzugeben“.
Gleichheit und Differenz
Das verwickelte Thema verfolgt mich länger schon, dafür brauche ich echt keine Hanni Mikl-Leitner. So schrieb ich bereits 2005 in der Berliner „taz“, Teile der Linken würden sich „seit 20 Jahren vornehmlich mit Phänomenen wie Differenz, Culture Jam, mit distinkten Identitäten, dem Zusammenprall und auch der fröhlichen Vermischung von Unterschiedlichkeiten befassen. Differenz ist spannend, Gleichheit fad. So wie die anderen will ohnedies keiner sein: Mainstream ist das Letzte. Jeder wünscht, sich als eine unverwechselbare Type zu sehen. Diese existenzialistische Wende war die linke Spielart der Individualisierung: Gender-, Schwule- und sonstige Diskurse waren und sind erstaunlich widersprüchlich codiert – die Forderung, als gleichwertig respektiert zu werden, korrespondierte mit dem eingeforderten Recht aufs Anderssein, auf Differenz…. Eine harte Lehre wird das demnächst auch für die metropolitane Kulturlinke: einzusehen, dass Differenz nicht nur cool, sondern bisweilen von geschmäcklerischem Schnöseltum schwer zu unterscheiden ist.“
Anders gesagt: Es ist nicht cool, dauernd die Verschiedenheit von den Anderen herauskehren zu wollen. Dann ist man nämlich auch nicht viel besser als der Lackaffe mit Stecktuch und genagelten Schuhen, der sich als etwas Besseres vorkommt. Cool ist, sich mit anderen gemeinsam auf das zu verständigen, was einen verbindet – und dann an einem Strang zu ziehen. Vielleicht sollte man Normalität nicht dauernd dekonstruieren, sondern sich vielmehr fragen: Was macht uns und andere zu Ähnlichen? Was verbindet uns mit ihnen? Statt dauernd den Differenzen nachzuspüren. Dann merkt man nämlich, und kann selbstbewusst proklamieren: „Die Normalen, das sind wir.“
Der Terror des gesunden Hausverstandes
„Deutschland, aber normal“, plakatiert die rechtsextreme, neofaschistische AfD. Man sollte sie auslachen. Normal? Diese extremistischen Spinner? Diese Schreihälse und verbitterten Agitatoren glauben echt, sie wären normal? Man brunzt sich gleich an vor Lachen. Normal sind die Millionen, die die Modernität und Liberalität und die Vielfältigkeit einer offenen Gesellschaft akzeptieren, nicht die, die sich nach einer Geschlossenheit und Homogenität und einer Diktatur des Konformismus und dem Terror ihres ‚gesunden Hausverstandes‘ zurücksehnen. Letztere sind alles Mögliche, aber sicher nicht normal. Am Ende kommt noch jemand daher und behauptet, Kickl und seine hasszerfressenen Schreihälse wären normal.
Soweit kommt es noch.
Nein, normal sind wir. Nicht die.
Plötzlich normal
Über diese paradoxen Wendungen von avantgardistischen Besonderungswünschen und dem neuen Normal hat mein Freund Peter Unfried gerade in der taz eine schöne Kolumne geschrieben:
„Früher wollte ich alles, nur nicht ‚normal‘ sein. Normal waren die anderen. Normal war scheiße. Wenn jemand (Mutter, Lehrer, Trainer, CDU-Ortsvorsteher) rief, ich sei ‚doch nicht normal‘, dachte ich: Genau. Super. (…) In einer pluralistischen, diversen und emanzipatorisch fortgeschrittenen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts sind Unterschiede und Unterschiedliche normal. Ein Auto zu haben ist normal. Kein Auto zu haben ist auch normal. Wurst zu essen ist normal. Keine Wurst zu essen ist auch normal. (…) Diese Normalität der kulturellen Vielfalt muss in alle Richtungen akzeptiert werden – solange sie auf der Anerkennung von Grundgesetz und geltender Ordnung basiert. (…) Nicht normal ist nur die Verabsolutierung einer partikularistischen Normalität, in der einer von vielen Lebensstilen und Kulturen als Maß aller Dinge gesetzt wird und andere herabgesetzt werden.“
So ist der Peter auf verwinkeltem Wege über die Jahre doch noch normal geworden.
Solidarität üben, aufeinander schauen, anderen aufhelfen, wenn sie gestolpert sind, sich bemühen, eine Gesellschaft voranzubringen, die Freiheit eines jeden zu achten, zugleich aufeinander Rücksicht zu nehmen, all das ist normal. Und noch ein bisschen mehr.
Die Normalen, das sind wir.
Titelbild: Thomas König / ZackZack