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Wer arm ist, soll still sein

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Wer arm ist, soll still sein

Wie sich Armut anfühlt und auf das Leben auswirkt beschreibt Daniela Brodesser in diesem mitreißenden Bericht. Der sozialen Ausgrenzung und Teufelsspirale der Armut kann nur mit einem begegnet werden: Ankämpfen und laut sein gegen ein System der Schande.

Armut stört. Wer sieht schon gerne Menschen am Straßenrand betteln? Wer will hören, dass die Alleinerziehende ihre Miete nicht bezahlen kann? Da sehen wir lieber weg, machen Armut unsichtbar oder reduzieren sie auf jene Aspekte, die wir nicht übersehen können. Störe ich? Im ersten Moment vielleicht nicht. Ich kann mich ausdrücken, bin intelligent und laufe in halbwegs annehmbarer Kleidung herum. Ich bin keine, die auf den ersten Blick von anderen als Armutsbetroffene bezeichnet und gemieden werden würde.

Und dennoch störe ich. In der scheinbar harmonischen Alltagswelt will niemand Armut sehen. Genau dort jedoch spreche ich sie an.

Ich störe, wenn sich Menschen über die “Faulen” aufregen, die, anstatt sich eine Arbeit zu suchen, lieber den Elternverein um einen Zuschuss zum Skikurs der Kinder bitten. Ich störe, wenn sich eben jene Eltern nicht mehr zu Veranstaltungen trauen, weil sie wissen, wie über sie geredet und gedacht wird. Ich störe im öffentlichen Raum, weil ich nicht einsehe, dass wir Armutsbetroffenen beschämt werden und mundtot gemacht werden sollen. Sichtbare Armut stört.

Aber sie ist da. Und sie fällt dann auf, wenn vermeintlich Selbstverständliches nicht mehr leistbar ist. Wenn die Sportwoche nicht bezahlbar ist, wenn man bei Veranstaltungen fehlt, oder die Kinder am Wochenende nicht mit den Freunden ins Kino können. Wir stören die heile Welt und viele ziehen sich ab diesem Zeitpunkt aus Angst oder Scham zurück. Viel zu schnell. Genau für diese Menschen möchte ich laut sein.

Ich bin eine Leistungsträgerin

Ich bin Mutter von vier Kindern, drei davon noch schulpflichtig. Verheiratet. Uns gings lange Zeit relativ gut. Wir waren nie reich, aber hatten immer genug, um das Leben zu bewältigen. Die Miete war leicht bezahlt, es fehlte an nichts. Der Mann war selbständig, ich hauptsächlich zu Hause bei den Kindern, nebenbei habe ich ein wenig gejobbt.

Dann geriet mein Mann ins Burnout. Krankenstand als Selbständiger? Unmöglich. Er musste weiterhin arbeiten, begann die Arbeit als freier Dienstnehmer. Also weiterhin: Kein Urlaub, kein Krankenstand, kein Mindestlohn. Damals waren wir beide der Meinung, besser eine miese Arbeit als gar keine. Damals wussten wir noch nicht, was dieser Job für uns bedeuten wird: Unregelmäßiges Einkommen, kein Anspruch auf Mindestsicherung. Ich hab‘ drei lange Jahre lang versucht, einen Job zu finden, der sich mit den Kindern vereinbaren lässt. Am Land ein ziemlich schwieriges Unterfangen.

Armut war in dieser Zeit ein täglicher Begleiter. Bei Monatslöhnen von 1400 Euro in verdammt guten Monaten,  bis zu 800 Euro in den schlechten – und die waren in der Überzahl –  ging es nicht mehr ums Leben, sondern ums reine Überleben. Ein Dach über dem Kopf, Essen auf dem Tisch. Viel zu oft blieb der Kühlschrank leer, die Stromrechnung unbezahlt und wichtige Anschaffungen wie Winterschuhe verschoben. Jeden Abend kam die Angst, was der nächste Tag bringen werde.

Einkaufen war damals geprägt von der Suche nach den günstigsten Lebensmitteln, der Speiseplan richtete sich nicht danach was man essen wollte, sondern nach dem Kontostand. Gesunde Ernährung war größtenteils undenkbar. Du nimmst halt einfach das billige Toastbrot anstelle eines hochwertigen Vollkornbrots. Vor allem wenn du die Kinder satt bekommen möchtest. „Dann mach das Brot doch selbst, kommt noch dazu billiger”, hörte ich manchmal als gutgemeinten Rat. Mag vielleicht so sein, aber neben der Pflege und vor allem neben den täglichen Existenzängsten war schlicht und einfach keine Kraft mehr vorhanden.

Es waren Jahre ohne Perspektive, ohne Blick nach vorne. Und das, obwohl wir nie aufgegeben, sondern immer gekämpft haben. Wie es Menschen ergeht, die irgendwann aus gutem Grund die Hoffnung verlieren, möchte ich mir gar nicht vorstellen.

Zu Beginn 2019 ging es endlich aufwärts. Ich zog zwei geringfügige Jobs an Land. Klingt gut, aber geringfügig arbeiten heißt auch: Keine Pensions- und Arbeitslosenversicherung. Die akute Armut war besiegt: Miete, Lebensmittel und kleinere, überraschende Beiträge für die Schule waren kein Problem mehr. Sich selbst eine Arbeitslosenversicherung zu leisten, um im Notfall abgesichert zu sein, war allerdings weiterhin nicht drin.

Inzwischen hat sich meine Jobsituation mehr als zum Positiven verändert. Wir liegen jetzt über der Armutsgefährdungsschwelle und können hoffnungsvoll in die Zukunft sehen. Von der Zeit in Armut ist mir aber eines ganz sicher geblieben: Der Wille laut zu sein, der Antrieb, etwas zu verändern. Ich werde weiterhin gegen Armut und Beschämung aufstehen. Immer.

Soziale Begegnungen meiden

Im Leben von fast allen Betroffenen kommt der Punkt, an dem sich die Umgebung von einem distanziert. Und du dich von ihr. Du musst Treffen mit Freunden absagen, weil Kaffeehausbesuche nicht mehr leistbar sind und du meidest Veranstaltungen aus demselben Grund. Du ziehst dich zurück.

Und deine Kinder? Geburtstagsfeiern werden ausgelassen. Woher auch das Geld nehmen für die teilweise krassen Geschenke, die dir vorher auf einer Wunschliste bekanntgegeben werden?

Sicher, es kann variieren. Fällt es in gewissen Stadtteilen absolut nicht auf, wenn dir für gewisse Dinge das Geld fehlt, so bist du 15 Kilometer weiter als arm abgestempelt.

Die Waffe der Beschämung

Beschämung ist eine mächtige soziale Waffe, um Menschen klein zu halten. Neben dem typischen „wer wirklich will, kann alles schaffen” kommen dann noch gutgemeinte Ratschläge wie „müsst ihr halt mehr sparen, das haben andere auch geschafft!” oder „vielleicht solltest du mehr Bewerbungen schreiben” und „Reiß dich doch zusammen, du musst halt stark sein”. Andere geben mir vor, was ich zu tun und wie ich mich zu fühlen habe. 

Was macht Beschämung mit dir?

Zu Beginn lähmt es dich, vor allem, wenn durch Armut und Scham dein Selbstwert schon beschädigt ist. Dir fehlen die “Argumente”. Nicht, weil es keine gäbe, sondern weil du irgendwann selbst denkst, dass du als Versager kein Recht hättest, dich zu Wort zu melden.

Als störend wahrgenommen zu werden stellt dich vor zwei Möglichkeiten:

Du ziehst dich zurück, lässt Beschämung über dich ergehen beziehungsweise vermeidest so gut es geht beschämende Situationen.

Oder: du stehst dagegen auf! Klärst auf, wie Beschämung funktioniert. Stellst dich solchen Situationen und störst! Leider hat man oft durch den täglichen Kampf und durch die plagenden Existenzängste absolut keine Kraft mehr. Und vor allem niemanden rund um sich, der dieses Stören anerkennt.

Das Bild der Öffentlichkeit

Wir Menschen, die aus welchen Gründen auch immer nicht oder nur begrenzt an dieser Leistungsgesellschaft teilnehmen, sind in den Augen der breiten Öffentlichkeit vor allem eins: Schmarotzer!

Faul, träge, ohne jegliche Disziplin. Wir passen einfach nicht in das Bild des braven, fleißig arbeitenden Österreichers. Denn wie schon oft erwähnt: Wer wirklich will, kann!

In einem Land wie Österreich will niemand wahrhaben, dass es neben der vermeintlich funktionierenden Gesellschaft immer mehr psychische Erkrankungen gibt, dass zu viele aufgrund fehlender Vereinbarkeit nicht oder nur prekär arbeiten und auch, dass viele Arbeitnehmer oftmals trotz guter Ausbildung nach Verlust des Arbeitsplatzes entweder nichts mehr finden oder in den Niedriglohnsektor abrutschen.

Diese Realität von abertausenden Menschen will man nicht wahrhaben, denn es zerstört den Glauben an das „das kann mir nicht passieren, denn ich bin doch fleißig”-Mantra.

Doch ja, es kann jeden von uns treffen!

Vor allem unter Türkisblau wurde das Hetzen gegen “Störende” massiv vorangetrieben. Mit Aussagen wie “soziale Hängematte”, “fehlende Anreize” oder „Kinder  müssen morgens alleine aufstehen” haben gewisse Politiker den Diskurs über all jene, die Unterstützung brauchen, auf eine neue, menschenunwürdige Ebene gehoben.

Alles aus reinstem Populismus. Wir, die Fleißigen, Steuer zahlenden, gegen die da unten, die nichts leisten und alles geschenkt bekommen.

Laut sein statt demütig

Weil wir diesen Menschen, die am heutigen Tag noch isoliert sind und zurückgezogen leben, die sich nichts äußern trauen aus Scham, die stumm geworden sind aus Beschämung, zeigen müssen, dass wir viele sind. Dass wir niemals akzeptieren dürfen, dass Menschen, die nicht nach dem gängigen Schema funktionieren und von der sogenannten Norm abweichen, beschämt oder stigmatisiert werden.

Was kann jeder Einzelne tun, damit störende als, das wahrgenommen werden, was sie sind: Menschen!?

Laut sein! Vorurteile nicht unkommentiert stehen lassen.  

Sich so gut es geht nicht einschüchtern lassen. Vernetzen. Und dagegenhalten gegen eine Politik der Ausgrenzung und Schande.


Titelbild: Christopher Glanzl

PS: Vor allem im Bereich von Armut gibt es inzwischen einige Initiativen, sowohl im realen Leben (Armutskonferenz, Plattform Sichtbar werden,) als auch in den Sozialen Medien: #ichbinarmutsbetroffen

Gemeinsam schaffen wir das!

Autor

  • Daniela Brodesser

    Daniela Brodesser macht als Autorin den Teufelskreis der Armut sichtbar und engagiert sich persönlich gegen armutsbedingte Ausgrenzung und Verzweiflung.

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