Warum die Linke für Freiheit, Großzügigkeit und Freundlichkeit in ihren eigenen Milieus kämpfen muss.
Vor einigen Monaten moderierte ich eine Buchpräsentation, und als dann das Publikum an der Reihe war, mitzudiskutieren, meldete sich eine Frau mittleren Alters. Sie sei in verschiedenen linken Gruppen aktiv, sagte sie, aber was sie in der letzten Zeit bedrücke, sei der Autoritarismus in ihren Kreisen.
Sie berichtete, dass sich überall die Radikalsten durchsetzen, obwohl die Mehrheit in ihren Gruppen deren Ansichten gar nicht teile. Diese Radikalsten würden jedes richtige Anliegen ins Extreme und Irrwitzige übertreiben, wer aber dagegen argumentiere, werde niedergemacht – als schlechte Feministin, Antirassistin, Sozialistin, was auch immer.
Und die anderen, die diesen Ton der Unbedingtheit und des Niedermachens auch nicht so prickelnd finden, würden die Klappe halten – aus Angst natürlich, selbst niedergemacht zu werden. Sie habe aber jetzt eine Strategie entwickelt, berichtete sie glücklich: Sie habe den Trick entwickelt, erst einmal den Augenkontakt zu anderen Mitstreiterinnen zu suchen, vielleicht leise den Kopf zu schütteln, Sitznachbarn mit ähnlichem Unbehagen in eine Art stilles Einvernehmen zu versetzen. Erst dann habe es einen Sinn, gemeinsam der Aufschaukelung ins Irrwitzige etwas entgegen zu setzen.
Ich weiß nicht, ob der Frau aufgefallen ist, dass sie Strategien von „Zivilcourage“ beschrieben hat, wie sie von Gewaltschutz-Organisationen angeraten werden, wenn in der U-Bahn ein Schlägertyp eine Mitfahrende terrorisiert: nicht als einzelner Held eingreifen, sondern Verbündete suchen und dann gemeinsam gegen den Schläger vorgehen. Schon ziemlich erschütternd, wenn man die gleichen Strategien gegen die Wortführerinnen und Influencer in linken Gruppen braucht.
Genau wegen solcher Dynamiken der Gruppenradikalisierung, in der die jeweils krassesten Ansichten den Ton angeben und die eher ausgewogenen Ansichten dann verstummen, ist heute vielfach von der „autoritären Linken“ die Rede. Ein Vorwurf der Gegner, der sich leider nicht einfach weg-bestreiten lässt.
Ausgrenzung der Moderaten
Es ist eine Dynamik, die verschiedene Ursachen hat. Unsere neuen Mediensysteme spielen sicherlich eine entscheidende Rolle: Im Kampf um Aufmerksamkeit hat die jeweils krasseste Haltung die beste Chance, maximales Gehör zu finden. Weiters: Politische Fragen oder auch bloße Lebenskultur-Themen werden moralisiert, sodass jemand mit auch nur marginal anderen Ansichten nicht einfach als jemand mit anderen Ansichten erscheint, sondern als eine moralisch verwerfliche Person, die verdammenswürdige Haltungen vertritt. De-Platforming, Cancel-Culture, der Kampf um Aufführungsverbote, das notorische „Shaming“ und anderes sind die logischen Folgen davon, da in diesen Kreisen simpler Linker schnell die Ansicht Verbreitung findet, dass die Leute mit verdammenswürdigen Haltungen oder jene, welche die gerade gängigen Begriffe nicht benützen, nicht mehr gehört werden sollen.
So skurril und lachhaft sich das anhören mag, es ist überhaupt nicht schwierig, in öffentlichen Veranstaltungen auf Redner zu treffen, die lautstark und im Gestus theatraler Entrüstung verkünden, die jeweilige Diskussion sei eine schlechte Diskussion, weil auch Personen mit anderer Ansicht als dieser jeweilige Redner zu Wort kommen. Eine gute Diskussion ist dieser Ansicht nach eine, in der nur eine Meinung vorkommt, nämlich die eigene.
Das klingt jetzt wie ein Bericht aus einem Irrenhaus? Lachen Sie nicht: Besonders ulkige Vertreterinnen dieser Spezies beklagen mitunter in ergriffenem Tremolo, ihre „Freiheit“ werde untergraben, weil Menschen mit anderer Meinung auch reden dürfen.
Gruppen sind radikaler
Sozialwissenschaftler und Theoretiker sprechen bereits von einem „Gesetz der Gruppenpolarisierung“ oder der „Gruppenradikalisierung“. Das heißt: Unsere Gesellschaft ist in verschiedene Meinungsgemeinschaften aufgeteilt, was nichts Schlimmes ist, sondern eine Eigenheit und Tugend der pluralistischen Demokratie. In den jeweiligen Gruppen setzen sich aber durch Gruppenprozesse die jeweils schrillsten Positionen durch und die moderateren werden mindestens an den Rand gedrängt, oft völlig mundtot gemacht. Das lässt sich sogar durch sozialwissenschaftliche Experimente gut nachweisen. Forscher haben Personen nach ihrem Urteil über ein bestimmtes Problem gefragt, und wenn sie individuell befragt wurden, kamen meist recht vernünftige Antworten. Stellte man denselben Leuten die Frage als Gruppe, waren die Antworten deutlich überspannter. Wählte man auch noch Themen, die sich moralisieren ließen, waren die Antworten noch extremer, denn dann wollte niemand, der Einwände im Kopf hatte, diese öffentlich aussprechen, und zwar aus Angst, in der eigenen Gruppe zum Opfer von Aggression zu werden, weshalb die Korrektive ausfielen.
Dass diese Mechanismen heute über die Grenzen von Gruppen mit persönlicher Bindung überschwappen konnten, hat vornehmlich mit dem Aufkommen „Sozialer Medien“ zu tun und dessen Herdentrieben. Was, wenn man es recht betrachtet, einen höllischen Witz hat: Medien wie Twitter, Instagram und andere, also die reichsten Konzerne der Welt, sind das technologische Tool für Selbstradikalisierungsprozesse im linken Sektenwesen und für das Aufkommen von Influencertum in jeder Subgruppe. Verschwörungstheoretiker könnten bestimmt beweisen, dass diese Tools extra dafür gemacht wurden, die Linken zu ruinieren. Da ich kein Verschwörungstheoretiker bin tippe ich eher auf einen teuflischen Zufall der Geschichte.
All das führt dazu, dass heute der Begriff des „Verbots“, früher verpönt, nunmehr zu einer ganz selbstverständlichen Vokabel in sogenannten „linken“ Diskursen geworden ist (ab hier sind die Gänsefüsschen angebracht, weil es spätestens hier überhaupt nicht mehr mit „linken“ Grundwerten vereinbar ist). Dieser Text soll gecancelt werden, dieser Meinungsbeitrag aus Anthologien verschwinden, jenes Stück nicht aufgeführt, dieser Film in den Giftschrank gesperrt, jenes Bild nicht mehr gezeigt, dieses Konzert verboten werden… War die einstige Linke von der Lust an der Befreiung motiviert, ist diese Pseudo-Linke von der Lust am Verbot und Anprangerung getrieben. Und nur, damit hier kein Missverständnis entsteht: in den meisten inhaltlichen Fragen selbst, vom Antirassismus, in Fragen der post-kolonialen Theorie, beim Thema Rape Culture bis zum Respekt für Transpersonen und was auch immer stehe ich persönlich den inhaltlichen Positionierungen dieser Milieus deutlich näher als ihren Antipoden, nur ihr konfrontativer Stil, der Autoritarismus und der Geist des Totalitären weckt meine Gegnerschaft.
Zurück zur Freiheit und Toleranz
Diese autoritäre Linke ist natürlich ein Problem. Erstens, weil sie ganz simpel die Linke unattraktiv macht. Wann immer die Linken große Mehrheiten begeistern konnten, dann spielte das Versprechen auf Freiheit – beginnend mit den Grundfreiheiten wie Rede-, Meinungs-, Versammlung-, Kunstfreiheit – eine zentrale Rolle, und darüber hinaus ein Versprechen auf Befreiung aus Konventionen, Normen, Konformitätsdruck, die Befreiung aus autoritären Zwängen, wie man zu leben habe. Eine muffelnde Linke, die ihre eigenen Mitstreiter in permanente Angst versetzt, irgendetwas Falsches zu sagen und den Konformitätsdruck der eigenen Blasen nur ja nicht zu verletzen, eine Linke, in der das Wort „Großzügigkeit“ zu einer verpönten Vokabel wird, ist einfach abstoßend – und damit die schlechteste Reklame für die eigene Sache.
Weiters: Im Prozess der Gruppenradikalisierung entfernen sich die Protagonisten so weit vom Mainstream der verachteten „Normalos“, dass man jeden Einfluss in der Breite der Gesellschaft verliert. Jede Bündnisfähigkeit wird zerstört.
Es ist ein systematisches Dilemma: Was in der eigenen Gruppe zum „Erfolg“ führt, trägt gleichzeitig zur Bauchlandung jenseits der engen Gruppengrenzen bei. Das Anreizsystem unserer neuen medialen Struktur ist einfach so, dass man mit einer kleinen, aber verschworenen Anhängerschaft belohnt wird, wenn man möglichst krasse Meinungen vertritt und von diesen auch niemals abweicht, während vernünftige Balance für den Aufbau einer Hardcore-Fangemeinde Gift ist.
Wirklich tragisch ist aber: die autoritäre Rechte kann sich die Hände reiben, wenn ihr die Linke den Boden für die Liebe zum Verbot bereitet. Wer die Vernichtung der sozialen Existenz von abweichenden Meinungen betreibt, braucht sich nicht wundern, wenn die andere Seite das demnächst noch mit deutlich nachhaltigeren Mitteln durchzieht. Der Geist, dass man abweichende Ansichten einfach verbieten sollte, hat sich mittlerweile so weit in unsere Gesellschaft – Links, Rechts und in die Mitte – hineingefressen, dass heute die Höchst- und Verwaltungsgerichte die verlässlicheren Verfechter liberaler Freiheitsrechte sind als die Erben einstiger antiautoritärer Bewegungen. Wie weit haben wir es eigentlich gebracht, wenn Berufsrichter in Roben und mit komischen Hüten antiautoritärer sind als die Linken?
Es ist völlig klar, dass man in zwanzig Jahren den Kopf schütteln wird, wie denn so ein Irrwitz möglich war, so wie man das heute über die RAF, die Mühl-Kommune oder einige Skurrilitäten maoistischer K-Gruppen mit ihren Selbstkritik-Ritualen tut.
Die Linke wird erst wieder auf die Beine kommen, wenn sie aus dieser Sackgasse, in die sie in den letzten Jahren entgleist ist, herauskommt und wieder zu einer Kraft der Freiheit und Befreiung wird, wenn der antiautoritäre Mainstream der Linken aufsteht. Wenn sie wieder zu einer Bewegung von Großzügigkeit, Zärtlichkeit, Nonkonformismus und des Zuhörens wird, und, ja, zu einem Motor der Freundlichkeit. Wie mein verstorbener Freund, der große Christian Semler einmal schrieb: „Freundlichkeit ist eine Haltung, sie ist lernbar. Wo Freundlichkeit nicht geübt werden kann, wegen der Härte der Klassenauseinandersetzungen, leben wir in finsteren Zeiten.“
Jeder und jede sollte sich einfach fragen: Willst Du Teil des Problems sein – also von Polarisierung, autoritärerer Verhärtung und des Unsanften –, oder Teil der Lösung?
Titelbild: Miriam Moné