Dienstag, Juli 29, 2025

Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt

Denken, das um die Welt geht: Wie sich Frantz Fanon von großen Österreichern beeinflussen ließ – und was er uns bis heute lehrt. Zum 100. Geburtstag des radikalen Intellektuellen.

Imperialismus, Kolonialismus und eine Weltordnung, die wie selbstverständlich von weißer Dominanz geprägt ist, gehen mit einem Set an ganz großen Lügen einher: dass „den Wilden“ die Zivilisation gebracht wird, der Fortschritt, die Kultur, dass sie eben eine unterlegene Kultur seien, dass sie einfach nicht fähig sind zur Unabhängigkeit, und dass der Andere, der „Eingeborene“, der Schwarze, der Muslim bestimmte Charaktereigenschaften hat, die seine Minderwertigkeit begründen: dass er simpel im Kopf ist, oder dass er verantwortungslos ist, fröhlich in den Tag hinein lebt, gerne lacht, gerne tanzt. „Unbekümmert, gesellig, redselig, körperlich entspannt“, wie Frantz Fanon das Klischee beschreibt.

Als Kolonisierte werden sie wie undankbare Kinder hingestellt, die rebellieren, obwohl man ihnen ja so viel Gutes gebracht hat, und als Einwanderer als freche Invasoren, die auch noch Forderungen stellen, statt sich still anzupassen.

Selbst ein Kind der westlichen Kultur

Dieses ganze Set an Vorstellungen hat Frantz Fanon in einer vor ihm nicht dagewesenen Schärfe kritisiert. Mehr noch: Er hat es mit aller Entschiedenheit bekämpft. Diese Woche wäre der große Vordenker des radikalen Antikolonialismus 100 Jahre alt geworden. Dabei ist er schon vor bald 64 Jahren an Leukämie gestorben. Frantz Fanon, der schwarze Intellektuelle aus Martinique, wollte auch die Vergiftung heilen, die diese westlichen Theorien in den Gefühlsstrukturen der Kolonisierten anrichten.

Dabei war er „Western as fuck“. Fanon selbst, das ist die Paradoxie von „hybriden“, also multikulturellen Identitäten, war selbst eminent „westlich“. Sein spätes Loblied auf die revolutionäre Kampforganisation war ganz von Marx und Lenin geprägt, die Prinzipien der Gleichheit aller hatte er aus der Aufklärung und der französischen Revolution (Prinzipien, die der Westen mit seiner Doppelmoral eben mit Füßen tritt).

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Bild: Der revolutionäre Psychiater Frantz Fanon in den 1950er Jahren. Credit: STF / AFP / picturedesk.com

Als Kind einer gehobenen Mittelschichtfamilie in Martinique in französischer Kultur aufgewachsen, war ihm zunächst die Nachahmung an die koloniale Ordnung zur „zweiten Natur“ geworden. War er schlimm, schimpfte ihn die Mutter, er benehme sich schon „wie ein Neger“. Im zweiten Weltkrieg kämpfte er in der französischen Armee gegen die Nazis und machte die erschütternde Erfahrung, dass man die Schwarzen eben nicht wie Gleiche behandelt. Es war nur eine von vielen Kränkungen.

Fanon, Freud und Adler

Es steckte sogar ein ordentliches Maß an „Wienertum“ in ihm, und nicht nur, weil ein Strang seiner mütterlichen Familie aus Straßburg stammte, wohin sie sich einst auf Grund der österreichischen Religionskonflikte geflüchtet hatte (wahrscheinlich war der Name „Frantz“ noch eine Homage an dieses Herkommen). Niemand hat den Psychiater und Psychoanalytiker Frantz Fanon wahrscheinlich so sehr geprägt wie Sigmund Freud, aber auch Alfred Adler, der seinerzeit das Konzept des „Minderwertigkeitskomplexes“ entwickelt hatte.

Fanon bekämpfte die westlich-imperiale Kultur mit den Werkzeugen der westlichen Kultur selbst. Er benützte die Analyseinstrumente, die sie entwickelt hatte. Er nahm die Postulate des menschenrechtlichen Universalismus und maß die dominierende Macht daran, dass sie ihre Werte mit den Füßen trat. Und er wusste, wie wir alle kulturell verflochten sind, sodass alleine die Idee von unveränderbaren kulturellen Eigenarten (von „Identität“ in einem strengen Sinne) schon eine verrückte Vorstellung ist.

Die koloniale Situation, so beschrieb das Fanon in seinem ersten großen Text „Schwarze Haut, weiße Masken“, stützt sich nicht nur auf die eingangs beschrieben Stereotype vom Schwarzen, Eingeborenen, vom Anderen, vom Muslim, auf die Infantilisierung, sondern eben auch darauf, dass diese stereotypen Bilder von den Schwarzen selbst aufgenommen werden, dass sie sich diese aneignen, sich ihnen unterwerfen, als negatives eigenes Ich. Und daraus müssen sich die schwarzen Kulturen erst einmal befreien.

„Der Weiße erschafft den Neger. Aber der Neger erschafft die Negritude“, schrieb er damals noch. „Negritude“, das war nicht nur der Versuch einer selbstbewussten Umkehr des abwertenden N-Wortes, sondern auch die Idee einer Gegenidentität, einer Gegenkultur. Negritude, das war in der Nachkriegszeit der große Schrei, als Konzept etabliert etwa von legendären Aktivisten, Politikern, Denkern und Literaten wie Aimé Césaire und Leopold Senghor.  Dem schwarzen Menschen selbst wird ein „Minderwertigkeitskomplex“ eingebrannt, er muss sich „von dem Arsenal an Komplexen befreien, das sich im Schoß der kolonialen Situation herausgebildet hat“.

Wie „der Schwarze“ produziert wird

Was als Eigenart und auch an scheinbar „schlechten“ kulturellen Eigenschaften in Erscheinung tritt, ist von der Missachtung, der Herablassung, der Behandlung als Infantile selbst produziert. Diese kulturelle Stereotypisierung aus den Kolonien ist in Einwanderungsgesellschaften von heute ebenso präsent. Der Unterprivilegierte, der als „gefährlich“ Angesehene, muss immer auf der Hut sein, vor Rassisten, vor der Polizei, vor dem Militär oder der Einwanderungsbehörde. Dieses „Auf-der-Hut-sein“, macht etwas mit ihm, wie eklatante Unsicherheit und chronische Respektlosigkeit mit jedem etwas macht.

Umgekehrt werden Projektionen einfach übernommen, von der Art: Wenn ihr mich alle für einen Gangster haltet, dann werde ich einfach einer. Jede Mutter eines tschetschenischen Buben kennt das, und macht sich Sorgen, dass das Kind nur nicht in falsche Kreise gerät.

Die Situation von Kolonisierten in Algerien der fünfziger Jahre, von den Nachkommen schwarzer Sklaven in den USA und die von Einwandererkindern der zweiten Generation bei uns heute ist nicht identisch. Es ist sicher ein grober Fehler, das alles, wie heute gerne üblich, mit denselben Begrifflichkeiten zu analysieren – aber es ist eben auch nicht unähnlich und hat einen vergleichbaren sozio-kulturellen Hintergrund. Es führt vielleicht keine gerade Linie von Senghor zu Rapperinnen wie Esrap, aber auch keine gar krumme.

Er spürte den „weißen Blick“ wie ein Messer

Insofern hilft Fanon-lesen natürlich auch ungemein, die kulturell-psychischen Dynamiken von Migrationsgesellschaften zu verstehen. Man darf es nur nicht auf die dumme Weise machen, auf Phrasen- und simple Aktivistenart.

Fanons Denken war vorbereitet, nicht nur von Giganten wie Césaire und Senghor, sondern auch von Intellektuellen wie dem großen schwarzen amerikanischen Soziologieprofessor W. E. B. Du Bois – dem Freund Max Webers und Autor von „Die Seelen der Schwarzen“ – und der jungen Studenten aus den Kolonien. Das waren die Vordenker jenes heute „Postkolonialismus“ genannten Theoriekomplexes, der erst von James Baldwin, Malcolm X und den Black Panther, später von Edward Said, dem legendären palästinensischen Intellektuellen, von Gayatri Chakravorty Spivak, von Stuart Hall, von Achille Mbembe und anderen weiter entwickelt wurde, bis hin zu den etwas grob gedachten und heftig umfehdeten „Critical Whiteness Theorys“, die für die heutigen Neofaschisten wie Donald Trump das absolute Böse sind. Fanon, das ist der große Star der Szene.

Der Mediziner aus Martinique begann sich mit dem Zorn und der Wut der Unterdrückten zu identifizieren. In Frankreich spürte er den „weißen Blick“, die Vorsicht, die Angst, die Herablassung, die einen erst zum Schwarzen macht. Er stellte fest, dass seine Kollegen zu Nordafrikanern sprachen, als wären sie begriffsstutzige Kinder. „Der Kolonialismus, begann er zu bemerken, war ein System pathologischer Beziehungen, die sich als Normalität maskierte“, so Adam Shatz in seiner großen Fanon-Biografie.

Es ist der Rassismus, der den Minderwärtigen produziert.

Die „Heilung“ der Komplexbeladenen

Der Psychiater Fanon wollte die „Ent-Entfremdung“ der Unterdrückten. Als Franzose kam er nach Algerien, schloss sich aber bald den Kreisen des antikolonialen Widerstandes an, wurde ein Vertrauter der Nationalen Befreiungsfront FLN, später in Tunis sogar deren Sprecher. Mit dem antikolonialen Kampf werde nicht nur der Kolonialismus verschwinden, „sondern auch der Kolonisierte“, so Fanon in seinem posthum erschienenen Hauptwerk „Die Verdammten dieser Erde“. Es war voller Zorn, aber auch voller Optimismus der Zeit.

Legendär wurde Fanon wegen seines Denkens der Gewalt (Kritiker sprechen vom „Kult der Gewalt“), dass im bewaffneten Kampf gegen die Herrschaft ein neuer Mensch entstünde, alleine schon, weil er die Angst vor den Unterdrückern ablegt. Alleine: Weil wächst, wer sich wehrt. „Der kolonisierte Mensch befreit sich in der Gewalt und durch sie… Auf der individuellen Ebene wirkt die Gewalt entgiftend. Sie befreit den Kolonisierten von seinem Minderwertigkeitskomplex…“ Der Unterdrückte hört auf, Ding zu sein und wird Mensch.

Kult der Gewalt

Heute wissen wir: Ganz so einfach lief das leider nicht, denn auch die Gegengewalt produziert Brutalisierung, hält das Soldatische hoch, produziert toxische Männlichkeit, muss die Konflikte zuspitzen und lässt keine Graustufen zu, zwingt zu Schwarz-Weiß-Denken und führt nicht unbedingt zu psychischer Heilung, sondern zu neuen Krankheitsbildern. Aus Antikolonialisten wurden selbst Despoten, aus Befreiungskämpfern Massenmörder. Auch die Langzeitwirkungen der Minderwertigkeitskomplexe verflüchtigen sich nicht so schnell. In postkolonialen Welten, in denen vielleicht die direkte koloniale Beherrschung verschwindet, aber nicht die Stereotypisierungen, entstehen sie sogar immer wieder aufs Neue.

Kein Wunder jedenfalls, dass Fanons Analysen – seine Einsichten und seine Irrtümer – bis heute fortleben und in vielen Debatten herumgeistern, seien es die über den Gazakrieg („der gewalttätige, terroristische, verlogene Araber“), seien es die Blicke auf migrantische Jugendgangs an unseren Bahnhöfen. Edward Said schrieb einmal ironisch, das vorherrschende Zerrbild des Arabers sind „faule Kameltreiber, Terroristen oder aufreizend reiche Scheichs“.

Der Hass, der sich wechselseitig nährt

Der westliche Imperialismus und der Nationalismus der Dritten Welt nähren sich gegenseitig, so wie das westliche Überlegenheitsgefühl und der fürchterliche Islamismus. Gewalt und Gegengewalt etablieren „das Hin und Her des Terrors“, wie es der Philosoph Achille Mbembe ausdrückt. Fanon wird oft als Gewährsmann für Haltungen genommen, die nicht die seinen waren, etwa für einen antiwestlichen Fundamentalismus, für ein steriles Identitätsdenken, für Antiuniversalismus, manchmal sogar für Antisemitismus. All das ist umso leichter, als der Zorn und die Empörung – und die persönlichen Verwundungen – des oft auch zur Kaltherzigkeit neigenden Fanon dafür durchaus Quellen liefern.

Es sind die Realitäten von Unterdrückung, aber auch die kulturalisierenden Diskurse, die mit diesen einher gehen, die, wie das Achille Mbembe nannte, „den Neger der Weißen und den Weißen der Neger“ schufen. Diese stereotypisierenden Bilder und Karikaturen im Kopf der jeweils Anderen führen bis heute dazu, dass „im Rahmen der neuen Welle von Einwanderungsfeindlichkeit in Europa ganze Bevölkerungsgruppen stigmatisiert“ werden.


Titelbild: Miriam Moné

Autor

  • Robert Misik

    Robert Misik ist einer der schärfsten Beobachter einer Politik, die nach links schimpft und nach rechts abrutscht.

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