Die heute weit verbreitete Ansicht, Politik müsse eine „Erzählung“ oder ein „Narrativ“ bieten, ist gefährlich. Sie befriedigt eine Medienmaschinerie, die extreme Verkürzung und Vereinfachung fordert und die Vertretung bestimmter ökonomischer Klassen durch bestimmte Bewegungen auflöst.
Das Wort Erzählen kam in den 1990er-Jahren (wieder) groß in Mode. Ging es um Literatur, wurde die Geschichte, das Geschichtenerzählen ins Zentrum gerückt. Nacherzählungen von Sagen und Mythen fanden prominente Plätze in den Radioprogrammen. Diese Renaissance der Ikonographie geht einerseits mit der neokonservativen politischen Welle der 1980er und andererseits mit einem Feldzug gegen alles Methodische einher. Das Anything goes! der sogenannten Post-Moderne – die eigentlich eine Anti-Moderne ist – hat dem disziplinlosen westlichen Denken seine Scham genommen, nein, ihm sogar ein Selbstbewusstsein gegeben, das es nach zwei Weltkriegen nicht haben konnte. Und dann hat das Betonen der Erzählung begonnen, andere Bereiche zu infizieren. Auch und vor allem die Politik.
Am Beispiel Jörg Haider ist einfach zu sehen, dass es sich bei seinen Botschaften um Verkürzungen handelt. Der Populismus, der bewusst darauf verzichtet, die Probleme, die er ansprechen will, analytisch auszuleuchten, wirft dem Publikum nur Parolen hin. Mit dem Satz »In Österreich gibt es 300.000 Arbeitslose und 300.000 Ausländer« wird weder geklärt, was der, der ihn sagt, unter einem »Ausländer« versteht, noch welche »Arbeit« es ist, die dieser »Ausländer« anstatt eines »Arbeitslosen« macht. In diese Kategorie fallen auch die berühmten Taferln, mit Slogans oder Zahlen beschriebene Schilder, die in Fernsehinterviews oder -diskussionen in die Kamera gehalten werden. Sie sind der Beginn einer beängstigenden Aggression und Verdummung im öffentlichen Diskurs.
Negative Botschaften
An Haider sehen wir aber nicht nur, wie kapitalistische Medien der Rechten und ihren Erzählungen zujubeln: dem Ende der »Altparteien«, das Haider so gerne verkündete, der »Überfremdung« und dem beständigen Raub des »Systems« an den »kleinen Leuten«. All das sind negative Botschaften. Haiders Ankündigungen, die seine Nachfolger weiter verbreiten, waren durch und durch verlogen. Selbst war er kein »kleiner Mann«, sondern sehr sehr reich. Das »System« hat er, kam er an die Macht, niemals in Frage gestellt. Seine Partei war und ist viel älter als die sogenannten »Altparteien« und das Wirtschafts- und Sozialsystem, das völlig auf Zuwanderung angewiesen ist, hat er nie verändert; sogar Haiders FPÖ-Spitzenkandidat der Nationalratswahl 1999 sagte: »Die Ausländer brauchen wir wie einen Bissen Brot.«
Statt mit seinen Erzählungen und Narrativen zu Punkten, hat er eine politische Erosion in der Gesellschaft ausgenützt, die bis heute das größte Problem ist: Die Klassen der Gesellschaft, nach ökonomischen Gesichtspunkten eingeteilt, diffundieren politisch und sind nicht mehr mehrheitlich einer Bewegung zuordenbar. Vor allem die untersten Klassen laufen rechten Bewegungen zu, die ihnen Feindbilder, Untergangsszenarien und Aufwiegelung bieten, aber keine Verbesserung ihres Lebens und ihrer ökonomischen Situation.
Die Bewegungen, die eine völlig gleiche Verteilung von Kapital und Arbeit fordern, gelten heute als politisches No-Go. Die, die den unteren Klassen wenigstens ein wenig Kapital, Arbeit, Sozialleistungen und Wohlstand zukommen lassen – die Sozialdemokratie – befindet sich überall in einer Krise. Die Parteien, die den Ärmeren gar nichts geben wollen – die Konservativen –, sind auf dem Weg sich den rechtspopulistischen und rechtsextremen Parteien anzupassen. Und die rechtspopulistischen und rechtsextremen Parteien wollen den Ärmeren noch mehr wegnehmen. Seit Donald Trump sogar ohne dieses Ansinnen noch rhetorisch zu kaschieren.
Analyse statt Erzählung
Erzählen ist vor allem eine Technik der Verkürzung und Verknappung. Die Meister der literarischen Erzählung verstehen es, uns mit wenigen Sätzen eine Imaginationswelt zu eröffnen, in der wir uns bis zum Ende des Texts bewegen können. Ihr Vorgehen ist synthetisch und nicht analytisch. Sie schaffen eine Welt aus Sprache. Damit diese Welt funktioniert, muss sie einen Anfang und ein Ende haben. Und auch das ist ein wichtiger Gegensatz zur Politik. Politik ist ein ständiger Prozess, ein Verwalten und Gestalten der Gesellschaft, das niemals endet und sich, wo es konstruktiv betrieben wird, dauernder Analyse und Kritik stellen muss.
Die Erzähler und jene, die ihrem Publikum ein Narrativ bieten, wollen aber mit Analyse und Kritik nichts zu tun haben. Sie möchten den Schein erwecken, dass es ein Problem mit einer einzigen Ursache gäbe, das mit einer einzigen Maßnahme zu lösen wäre. Wie falsch diese Sichtweise ist, lässt sich am Unwort »Endlösung« gut feststellen, dessen Erfinder industrielles Morden zur Bedingung einer »heilen« Gesellschaft erklärt haben.
Austria oder Rapid?
Eine Erzählung bietet uns in der Politik nichts. Sie führt uns aus der Welt heraus, in der eben tagtäglich neue Analysen gemacht, neue Maßnahmen überlegt und in Diskurs und Debatten durchgesetzt und auch kontrolliert werden müssen. Es ist eine Aufgabe, die niemals abgeschlossen ist und die sich der ständigen Hinterfragung der eigenen Methode nicht verschließen darf. Erzählungen helfen uns nicht dabei, unsere ökonomische und soziale Situation zu bestimmen und damit zu beginnen, die notwendigen Maßnahmen zum Kampf für unsere Gleichstellung durch Denken und Analysieren zu ermitteln. Leider sind komplexe Fragen, wie zum Beispiel urheberrechtlicher Regelungen, die sich im Zuge der Verwendung von KI bei der Textproduktion stellen, keine Sache, die sich klären lässt, in dem man den Menschen die Frage stellt: »Austria oder Rapid?«
Die Gefahr, die von einer Öffentlichkeitsarbeit ausgeht, die bewusst Verkürzungen sucht, ist heute allerorts evident. Sie geht einher mit der Verkürzung von Diskussionen und Argumentationen in den Medien, mit dem Ersetzen von Information und Analyse durch Werbung. Der Mensch, der ein politisches Begehren hat, wird zum reinen Fan oder Anhänger einer Bewegung, der ihren »Sieg«bei den Wahlen wünscht, und den anderen eine »Niederlage«, einen »Denkzettel«. Die Stilisierung von Wahlen zum Tribunal soll die demokratischen Defizite unserer Gesellschafts kompensieren: Wo es keine Analyse, sondern nur mehr Erzählungen gibt; wo es keine Solidarität, sondern nur mehr Fraktionierung gibt; wo es keine Maßnahmen, sondern nur mehr Ankündigungen gibt; wo es nur mehr Propaganda und keine Information gibt – dort soll die Tatsache, dass noch Wahlen stattfinden, zumindest das Narrativ von der Demokratie aufrecht erhalten.
Sieg oder Niederlage
Die Sprache dieses Sieg-Niederlage-Denkens ist aggressiv. Diese Aggression wird von den Medien weitergegeben und fließt in die Alltagssprache ein. Die politischen Bewegungen selbst werden medial nicht mehr durch ihr Programm, ihre Vorstellungen von der Gestaltung des Zusammenlebens, sondern durch die Darstellung ihrer Spitzenkandidatin oder ihres Spitzenkandidaten repräsentiert. Politik wird reine Show, die mit dem Wahlergebnis endet. Und wird nicht gewählt, dann werden sogenannte Umfragen hergenommen, um Politikerinnen und Politikern vorzuhalten, dass sie nicht populär genug sind.
Pragmatik oder Gesinnungslosigkeit
Der Glaube an die Erzählung und das Narrativ in der Politik ist ein großes Übel, denn er zeigt, dass selbst dort, wo politische Programme geschmiedet werden sollen, an der falschen Stelle begonnen wird. Die wichtigste Voraussetzung für Politik ist nun einmal eine grundlegende Überzeugung, die es zu vermitteln gilt. Die Begriffe Ideologie und Gesinnung sind nur leider im Zuge der antikommunistischen und antisozialistischen Propaganda, die unsere Gesellschaft seit fast hundert Jahren fest im Griff hat, mit diesen Feindbildern gleichgesetzt und damit schlechtgeredet worden.
So huldigt man heute dem »Pragmatiker«, einem Politiker ohne Ideologie oder inhaltliche Überzeugungen, der in der gestrigen Zeitung gelesen hat, was heute zu tun ist. Er ist ein Reaktionär, weil er nur reagiert. Die »Pragmatik« hat auch einen weiteren Vorteil: Man kann morgen das tun, von dem man gestern gesagt hat, man würde es niemals tun. Auf diese Weise sehen wir die politischen Parteien heute durch ihre Erzählungen der wichtigsten Grundlage beraubt: Gesinnung.
Bloße Feststellungen
Wer keine Gesinnung hat und politisch nicht versucht, zumindest kleine Schritte in die angestrebte Richtung zu gehen, wird außer Erzählungen und Rhetorik nichts vorweisen können. Er steht als Redner vor seinen Fans. So kann man die Erzählung von Ökologie und Klimaschutz auf- und abbeten, während man gleichzeitig seit Jahrzehnten das Gegenteil tut, in denen man durch kleine, aber konsequent weiterentwickelte Maßnahmen viel erreichen hätte können. So kann man die Erzählung von der sozialen Schere wieder und wieder bemühen, während tagtäglich immer weniger Menschen um horrende Summen reicher werden, während ein Großteil der Menschheit besitzlos ist und mehr und mehr verarmt. Über die bloße Feststellung, dass es in die falsche Richtung läuft wird man nicht hinauskommen.
Bitte lasst das Erzählern den Erzählerinnen und Erzählern! In der Politik braucht es Ideologie, die in brauchbare Konzepte mündet und weiter zu konsequentem Handeln, Taten und Maßnahmen führt, die die Gesellschaft in eine vorgegebene Richtung weiterentwickeln. Ein Erzähler hingegen ist am Ende seiner Erzählung mit seiner Arbeit fertig.
Titelbild: Miriam Moné