Internationale Pressestimmen
Deutsche Medien kommentieren am Samstag ausführlich die Abschiebung von Tina. Thema war das Versagen der Grünen, die gnadenlose Rechtsaußenpolitik von Kurz und die martialisch aufgerüstete Polizei. “Zwei Welten prallen in Wien gerade aufeinander”, aber eine bestimmt.
Wien, 30. Jänner 2021 | Die Abschiebung Minderjähriger nach Armenien und Georgien kommentieren internationale Zeitungen am Samstag:
“Frankfurter Allgemeine Zeitung”
“Eine Abschiebung abgelehnter Asylbewerber hat in Österreich zu einem Koalitionsstreit zwischen der christlich-demokratischen ÖVP und den Grünen geführt. Grüne Spitzenpolitiker einschließlich Parteichef und Vizekanzler Werner Kogler bezeichneten das Vorgehen von Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) als ‘unmenschlich und unverantwortlich’ sowie als ‘Heuchelei’. Die Scharmützel reichen bis hinauf zum Staatsoberhaupt: Bundespräsident Alexander Van der Bellen, einst Grünen-Vorsitzender, im heutigen Amt zur Überparteilichkeit verpflichtet, meldete sich mit einer Videoansprache zu Wort und bezweifelte die Angemessenheit der Abschiebung.
Trotz allem wird in Wien nicht damit gerechnet, dass die ‘türkis-grüne’ Koalition zerbricht. Vor Weihnachten wurde in einem ähnlichen Tonfall über die Aufnahme von Flüchtlingskindern aus Lagern in Griechenland diskutiert, was die ÖVP-Regierungsmitglieder ablehnten. Jetzt hielt sich der Bundeskanzler und ÖVP-Vorsitzende Sebastian Kurz vorerst bedeckt.
“Münchner Merkur”
“Zwei Welten prallen in Wien gerade aufeinander. Während die Kanzlerpartei ÖVP massiv auf die Abschiebung dreier Schülerinnen und ihrer Familien drängte, beklagen die Grünen das Fehlen jeglicher Menschlichkeit. Das wäre ein normaler Vorgang, wenn hier die Opposition toben würde. Für einen Koalitionspartner aber sind es spektakulär schrille Töne.
Das schwarz (in Österreich: türkis)-grüne Projekt wird international aufmerksam beobachtet, nicht zuletzt in Berlin. Anders als in Deutschland bei der GroKo ist in Wien gar nicht erst versucht worden, unterschiedliche Positionen auf einen gemeinsamen Nenner zu reduzieren. Jeder hat auf seinem Gebiet das Sagen. Dieses Konstrukt hat in guten Zeiten Charme, weil der Juniorpartner aus dem Schatten des Großen hervortreten kann. Nun aber, wo die Abschiebepolitik der ÖVP die Grünen im Innersten trifft, stößt das Modell an seine Grenzen.
Zum zweiten Mal, nach der Debatte um die Aufnahme von Flüchtlingen aus Moria, wird sich die kleinere Regierungspartei schmerzhaft ihrer Machtlosigkeit bewusst. Weil es um den Kern ihrer Politik geht, müssen die Grünen nun Kröten schlucken. Sie haben gewusst, worauf sie sich einlassen. Schwer zu verdauen ist es trotzdem.”
“Rheinische Post”
“Die Fernsehbilder vermittelten den Eindruck, als ginge es um eine Abschiebung von Terroristen oder Drogenhändlern. Doch die rund 100 martialisch aufgerüsteten Polizisten waren nachts mit Schlagstöcken und Hunden gegen Schüler, Eltern, Lehrer und andere Unterstützer ausgerückt, die eine Abschiebung von zwei Kindern und einer Jugendlichen nach Georgien und Armenien verhindern wollten. Freilich vergebens. Noch mehr als der unverhältnismäßige Polizeieinsatz erregen die österreichische Öffentlichkeit die unmenschlichen Begleitumstände der Abschiebung.
(…) Der Fall führte zum bislang schwersten Krach innerhalb der seit rund einem Jahr amtierenden Koalition aus Konservativen (ÖVP) und Grünen unter Bundeskanzler Sebastian Kurz. Grund ist immer wieder die Migrationspolitik. Auch in der Frage, ob Flüchtlingskinder auf der griechischen Insel Lesbos aufgenommen werden sollen, gärt es. Doch wie lange können es sich die Grünen noch leisten, nur achselzuckend ihr Bedauern auszudrücken? (…) Das gültige Asylgesetz stammt von 2015, dem Jahr der Flüchtlingskrise, das während der Mitte Mai 2019 geplatzten ÖVP-FPÖ-Rechtskoalition weiter verschärft wurde.
Die Grünen scheitern bislang an Kurz, daran auch nur einen Strich zu ändern. Jetzt fordern sie unter dem Druck der Proteste, die auch von Österreich unterzeichnete UNO-Kinderrechtskonvention zu respektieren. Kurz wird von Medien als ‘Kanzler herzlos’ kritisiert. Doch selbst in der ÖVP, die sich als ‘christlich-sozial’ definiert, mehren sich nun Stimmen gegen derlei inhumane Härten. Doch der Kanzler schweigt, wie immer, wenn er in Bedrängnis gerät. Kurz will mit seiner gnadenlosen Asylpolitik die Massen enttäuschter FPÖ-Wähler, die zur ÖVP übergelaufen sind, bei der Stange halten. Und sei es auf Kosten von Kinderrechten. ‘Es wird keine schönen Bilder geben’, sagte einmal selbst über seine Ausländerpolitik.”
“Dolomiten” (Bozen)
Die österreichischen Grünen haben in ihrem ersten Jahr als Koalitionspartner der Sebastian-Kurz-ÖVP schon viel runterschlucken und mittragen müssen/runtergeschluckt und mitgetragen, das ihnen Ärger und Häme auch von eigenen Anhängern eingetragen hat. Aber die Abschiebung von drei Schülerinnen aus Wien nach Georgien und Armenien diese Woche stellt den Höhepunkt des grünen Dilemmas dar: ‘Wozu haben wir Grüne in der Regierung?’ ist noch die mildeste Kritik.
(…) In der Koalition rumort es seither natürlich. (…) Koglers Dilemma, und das ist das Dilemma der Grünen, seit sie Regierungspartner sind: Wenn er etwas fordert, wird es im besten Fall von der Kanzlerpartei ignoriert – oder als ‘Privatmeinung’ des Vizekanzlers abgetan. So war das wörtlich bei seiner Forderung nach Vermögenssteuer zur Abdeckung vieler Corona-Kosten oder nach Erhöhung des Arbeitslosengeldes der Fall. Demütigender kann man mit dem Koalitionspartner nicht umgehen.”
(apa)
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