Skylla & Charybdis
Julya Rabinowich in der heutigen Kolumne über Kunst, Menschen und die Maus.
Wien, 05. Februar 2022 | Kunst muss nicht nur frei sei, sie muss auch brutal sein können. Ungeliebt. Unbequem. Grausam. Das kann man kritisieren, sich daran abarbeiten, es ignorieren, zu Gegenposition ausholen. Nur eines darf man nicht tun, zum Verstummen darf man sie nicht bringen. Schon gar nicht dann, wenn sie schmerzhafte Punkte unserer Geschichte berührt.
Die Konfrontation mit den Verbrechen wider die Menschlichkeit ist zumutbar, mehr noch als das, es ist sogar dringend notwendig, sich wieder und wieder mit ihnen zu beschäftigen, auch dort, wo es schmerzt- allein nur vom Hinsehen bereits schmerzt! Allein deswegen, weil das, was in Vergessenheit gerät, sich leichter wiederholt. Allein schon, um die Opfer dieser Verbrechen zu ehren. Allein schon, um sicherzustellen, dass man ein Gefühl dafür kultiviert, wann Grenzen unwiederbringlich verschoben werden.
Eines der ganz großen Blicke auf solche Verbrechen ist das preisgekrönte Buch „Maus“ von Art Spiegelmann, der darin die Geschichte seiner Eltern während dem Holocaust als Comic erzählt: für junge Leserinnen und Leser eine atemberaubend schmerzliche Auseinandersetzung, nichtsdestotrotz eine notwendige. Was geschah, kann wieder geschehen. Besser wissen, was Krieg bedeutet. Besser gewarnt sein.
Kunst kann das auf eine Art vermitteln, die kein Geschichtsbuch je vermitteln kann: nicht als Zahl, nicht als Foto, als gescanntes Dokument, sondern als konkretes Schicksal. Genau dieses mit dem Pulitzersonderpreis ausgezeichnetes Werk wurde jedoch im Schulbezirk von Tennessee aus dem Unterricht verbannt. Der Grund: neben Nacktdarstellungen die „grobe und anstößige Sprache“. Vielleicht kommt es überraschend, aber die Vernichtung von Menschen wird nicht immer mit korrektesten Ausdrücken einhergehen. Und das Überleben eines solchen Verbrechens bedeutet nicht, dass man auch wirklich überlebt. Auch der Suizid von Spiegelmanns Mutter war bei dem Aussortieren des Werkes Thema, er sei verstörend. Ja, Genozid und seine Folgen sind verstörend. Das heißt nicht, dass man fest die Augen davor verschließen sollte. Im Gegenteil: nur wer durch den Schmerz hindurch blickt, wird verstehen und lernen. Es gab schon zuvor Versuche, großartige Werke der Literatur sanft verschwinden zu lassen, nicht einmal Margaret Atwood war davon verschont. Die einzig akzeptable Antwort auf Zensur jeder Art kann nur sein: noch lauter zu werden. Noch sichtbarer.
Titelbild: APA Picturedesk