»Lifestyle-Jesus« verteilt Käsebrot und Campari
Man hatte ja gedacht, dass es mit den Schleim-Artikeln zu Sebastian Kurz seit der Inseratenaffäre vorbei ist. Die deutsche Springer-Presse fabrizierte am Donnerstag ein Stück über den Altkanzler, auf dem man ausrutschen könnte.
Wien, 10. Juni 2022 | Ist es eine Homestory oder ein Liebesroman? Darüber waren sich Leser der deutschen Zeitung „Welt“ am Donnerstag nicht einig. Großer Interview-Partner war der österreichische Alt-Kanzler Sebastian Kurz. Die „Welt“, welche zum Springer-Verlag gehört, stand Kurz stets unkritisch gegenüber. Doch die Homestory in Meidling, die am Donnerstag aufgetischt wurde, erreichte neue Dimensionen.
“Es ist, als würde man die Queen in Jeans sehen”
Zu Besuch bei Kurz war der Journalist Joachim Lottmann, der für sein “Zu-Tode-Loben” bekannt ist. Er beginnt gleich einmal mit einem gewagten Vergleich: „Der Altkanzler der Republik Österreich öffnet in zerrissenen Jeans, alten Turnschuhen und einem hellgrauen T-Shirt, das auch Selenskyj gut stehen würde, die Tür. Jedenfalls besser als das braune T-Shirt, das der immer trägt.“ Ein Vergleich mit dem ukrainischen Präsidenten genügte Lottmann allerdings nicht. Die Queen musste her: „Es ist, als würde man die Queen in Jeans sehen, was man sich ja unmöglich vorstellen kann und will“, so Lottmann.
Äußerst stark betont wird in der Homestory, wie bescheiden der Kanzler lebt: Im Arbeiterbezirk Meidling, über der Wohnung der Eltern, als Politiker habe er jeden Cent zur Sparkasse getragen. Beim gemeinsamen Spaziergang durch den Plattenbau meinte Kurz gegenüber Lottmann: „Ich bin seit meinem Rücktritt etwa 150 Mal auf der Straße angesprochen worden, nur zwei Mal war es negativ.“
Lifestyle-Jesus teilt Camapari und Käsebrot
Der Autor versuchte Kurz’ These zu unterstreichen, alle hätten ihn lieb: „Wie oft hatte ich ihn begleitet, wenn er über Land zog und von der bäuerlichen Bevölkerung wie ein gut gelaunter Lifestyle-Jesus geliebt und bejubelt wurde. Keine Frage, dass sie ihn liebten, und zwar alle.“ Natürlich ging es im insgesamt mehr als vierstündigen Gespräch mit Sebastian Kurz auch um seinen neuen Job bei Peter Thiel. Lottmann fasste Kurz Erfolgschancen eher unkritisch zusammen: „Wenn er es gut macht, es zur Meisterschaft bringt, wie in der Politik vorher, kann er Milliardär werden, nein, dann wird er zwangsläufig Milliardär!“
Der Besuch bei Käsebrot und Campari-Begleitung geht munter weiter, doch auch eine Beschreibung des Autors für Kurz’ Auftreten muss noch her. Wieso ist Kurz so, wie er ist? Die Antwort der „Welt“ darauf, ist sein lösungsorientiertes Denken und Handeln, vielleicht sogar „das Fehlen von Falschheit und Neurosen“. Der Autor mutmaßt, es könnte auch “die Reinheit der Seele” sein.
Autor begleitet Kanzler seit zehn Jahren “kritisch”
Besonders kurios wurde es gegen Ende, wie auch viele Social-Media-Nutzer am Donnerstag anmerkten: „Jetzt, mit 35, ist er glücklicher Jungvater und verliebt in seine schöne, sehr blonde, immer noch junge Freundin. Sie schläft inzwischen. Er streicht ihr vorsichtig mit dem Handrücken über die erhitzte Wange. Das Licht löscht er ebenso sanft durch eine lautlose Bewegung durch die Lichtschranke. Das Mädchen war bei ‚Diener des Volkes‘, letzte Staffel, eingeschlafen.“
Ich weiß nicht, ob ich es weiter daneben finde, wie sie über ihn schreiben oder über seine Frau. Ist aber auch wurscht. https://t.co/NkBJxM2EfE
— Michel Reimon (@michelreimon) June 9, 2022
Der Artikel schließt mit einem kurzen Absatz zum Autor selbst: „Den ehemaligen Kanzler Österreichs begleitet er kritisch seit über zehn Jahren.“ Das wurde eindrucksvoll am Donnerstag unter Beweis gestellt.
(bf)
Titelbild: APA Picturedesk/Montage ZackZack