Zwischen Pro-Kriegsverbrechen-Fans, Netanjahu-Irren und Hamas-Bejublern: der Wahnwitz und die Hirnlosigkeit sind unerträglich.
Ich habe mir ja angewöhnt, die erschütternden Berichte aus Nahost mit Ausgewogenheit und Vernünftigkeit zu kommentieren, zu Empathie mit allen Leidenden zu mahnen, und gegenüber dem grassierenden Irrwitz mit der leisen Stimme der Besonnenheit zu argumentieren. Wahrscheinlich verleitete mich dazu der gutmenschliche und auch etwas verrückte Glauben, man könne damit den einen oder anderen Radikalisierten noch zum Nachdenken bringen. Ich habe dafür viel Zuspruch erhalten, darunter vergangene Woche auch dickes Lob von einem Freund. Allerdings meinte er, gelegentlich könnte es auch angebracht sein, härtere Töne anzuschlagen. Er hat dafür auch einen Vorschlag gemacht, auf den ich später noch zurückkommen möchte.
Denn, da hat er schon recht, es ist ja kaum auszuhalten.
Die Kriegsverbrecher-Fraktion
Da sind die hundertprozentigen Jubel-Netanjahus, die alles verteidigen, was die israelische Regierung aus Rechtsextremisten und Faschisten anrichtet, und alle, die Kritik äußern, als „Antisemiten“ diffamieren, sogar den Ex-Premier Ehud Olmert. Der meint bekanntlich, sein Land führe einen „Vernichtungskrieg“, ein Urteil, das viele israelische Ex-Generäle ähnlich äußern.
Die unverblümte Pro-Kriegsverbrechen-Fraktion dagegen meint, dass Israel Millionen Palästinenser in Gaza nicht aushungere (obwohl gerade das ja die erklärte Strategie der Netanjahu-Regierung ist), um dann im nächsten Moment zu betonen, dass die Bevölkerung Gazas das ja verdiene, da es dort keine Unschuldigen gäbe, ansonsten hätten sie die Hamas ja schon gestürzt. Schrödingers Hungermörderei ist das gewissermaßen: Sie findet nicht statt, ist zugleich aber total berechtigt. Variationen dieser Propaganda lauten, dass Israel keine Lebensmittel liefern könne, weil die sonst von der Hamas gestohlen würden, oder dass Israel Lebensmittel liefere, oder dass die UNO, die Hamas, die Europäische Union oder sonst wer schuld ist, nur nicht die Belagerer. Jedenfalls läuft es immer darauf hinaus, dass es schon okay ist, dass hunderttausende Menschen hungern. So eine kleine Hungersnot dürfe man doch nicht so eng sehen. Man wisse ja nicht, ob die Menschen wirklich hungern, und damit sich an diesem Nicht-Wissen nur ja nichts ändert, killt man am besten die letzten Journalisten in der Todeszone.
Man bekommt täglich vorgeführt, wie sich Menschen in einen Fanatismus hineinsteigern, bis sie bereit sind, die schlimmsten Verbrechen zu unterstützen.
Die heimlichen Massakerfans
Dann gibt es auch einige vorgebliche Netanjahu-Kritiker, die stets betonen, keineswegs den ruchlosen israelischen Premier zu unterstützen, die aber dann letztlich auch nichts sehr viel anderes sagen als das obige. Sie sind etwa gegen die ethnischen Säuberungen, die Netanjahu plant, stürzen sich dann aber gierig auf jeden Bericht, der genau diese leider unumgänglich mache, etwa wenn irgendwer ein Interview gibt, in dem er sagt, man könne dort wegen der vielen Tunnels sowieso keine Wohnhäuser mehr bauen.
Man spürt, es ist ihnen schon peinlich und zumindest unangenehm, Menschenrechtsverletzungen, Massaker, Kriegsverbrechen und einen Ausrottungsfeldzug zu befürworten, weshalb sie es versuchen, auf clevere, pfiffige oder bauernschlaue Weise zu tun. Diese pfiffigen Argumentationsreihen verenden mangels sonstigem überzeugenden Tatsachsachensubstrats meist in der Feststellung, dass die Hamas viel schlimmer sei als das Vorgehen der israelischen Armee, wobei nicht ganz klar wird, wofür genau das ein Argument sein soll. Dass die Hamas eine fürchterliche Todessekte ist, würde ja niemand bestreiten, außer völlige Verrückte, auf die wir noch zurückkommen. Würde mir als letzter Ausweg und Maßstab die Erklärung bleiben, dass die Hamas noch etwas schlimmer sei als ich, würde ich ja eher an meinem Selbstbild arbeiten, an meinen Argumenten oder an meinen Messlatten. Am besten an allem drei.
Im Augenblick hat Israel das Kommando über das Töten und die Hungermörderei, weshalb aus der Gleichverteilung von Wahnsinn und Unmenschlichkeit keine Gleichverteilung beim Leiden und beim Massakrieren folgt. Wer da gerade „schlimmer“ ist, mögen andere diskutieren. Am besten sollen das Richter in Den Haag klären.
Irgendein Politiker sagte einmal (ich habe vergessen, wer es war), „bei Völkermord dürfen wir nicht abseits stehen“, und meinte natürlich, da müsse man laut das Wort zum Protest erheben und wenn möglich sogar eingreifen. Manchmal hat man heute den Eindruck, er wurde falsch verstanden, nämlich als Anstifter, dabei eifrig mitzutun.
Ich würde schon aus Gründen der weisen Vorausschau und des Selbstschutzes keine Massaker legitimieren, da ja absehbar ist, dass man in fünf Jahren diese eifrigen Pro-Krieg-Agitatoren aus dem Internet und ihre willigen Claqueure in etwa mit dem moralischen Urteil belegen wird, mit dem heute Befürworter des Srebrenica-Massakers oder Fürsprecher des ruandischen Tutsi-Erschlagens leben müssen. Denn das Massensterben von heute ist die eine Seite der Sache, der künftige Nachhall dieses moralischen Desasters die andere. Der sogenannte Westen wird sich davon nicht so schnell erholen. Und viele Leute werden sich ihr Lebtag dafür schämen, was sie so an Wortmeldungen abgesetzt haben.
Die Hamas-Irren
Das macht freilich das stetige Geschrei jener nicht besser, die schon am 8. Oktober 2023 das Genozid an der Bevölkerung in Gaza anprangerten (das damals noch lange nicht begonnen hatte), ohne je das bestialische Massaker der Hamas vom Vortag kritisiert zu haben, und denen zu den Schreckensbildern ausgemergelter Geiseln in Tunnels, die auch noch ihr eigenes Grab schaufeln müssen, nichts einfallen will. Das ist jetzt natürlich unscharf formuliert, denn es wäre ja sogar besser, wenn ihnen nichts einfiele, tatsächlich fällt ihnen aber sofort ein, dass alles was „der Widerstand“ gegen die „Kolonisatoren“ mache, stets gerechtfertigt und unterstützenswürdig sei, welche Gräueltaten dabei auch immer begangen werden. Da Widerstand ja ein Akt der Behauptung von Menschenwürde sei, ist dann auch das Aufschlitzen von freundlichen bekifften Partykids irgendwie ein humaner Akt und die Zerstörung Israels ein moralisches Gebot. Die Argumentationslogik ist übrigens spiegelbildlich verrückt wie die der Gegenseite: die Massaker haben entweder nie stattgefunden oder sind total gerechtfertigt, denn wo gehobelt wird, da fliegen Späne. Wenn die Verkünder solcher Kraftmeiereien dann die Subventionen durch den gemeinen imperialistischen Staat verlieren, ist es ihnen übrigens auch wieder nicht recht.
Generell ist es ja ein „Argument“ aus der Schublade der menschenfeindlichen Rhetorik, dass die Gräueltaten der einen die Gräueltaten der anderen unbedingt rechtfertigen, weshalb man mittlerweile selbst für so No-Na-Haltungen wie „Gräueltaten rechtfertigen keine Gräueltaten“ mit Gegenwind zu rechnen hat, damit bringt man heute beide Seiten gegen sich auf und erweist sich zugleich als Antisemit und antipalästinensischer Rassist.
Auf verlorenem Posten scheint sowieso zu stehen, wer daran erinnert, dass sowohl Palästinenser als auch jüdische Israelis generationsübergreifende Traumata mit sich herumschleppen, die in der gegenwärtigen Lage alle wachgerufen werden, und dass überdies ein Gemetzel wie das vom 7. Oktober eine ganze Gesellschaft traumatisiert. Genauso, wie gleichzeitig ein monatelanges Leben im Bombenhagel, die Verwandlung der eigenen Stadt in eine Schutthalde, permanente Todesangst und der Verlust von vielen Familienangehörigen zu einer Kriegspsychose führt, die man sich aus der Distanz gar nicht einmal vorstellen kann.
Zum Wahnsinn, der um sich greift, zählt, dass die wenigen, die noch Fäden der Kommunikation zwischen den Bevölkerungen – der israelischen und der palästinensischen – und Fäden der Kommunikation in der Diaspora (zwischen Juden und Arabern) aufrechterhalten, nicht als Helden der Vernunft gefeiert, sondern als Verräter gebrandmarkt werden, von den einen als illoyale Juden, von den anderen als Komplizen des Genozids.
Zu den kleinen Verrücktheiten zählt auch, dass die traditionsreiche sozialistische, zionistische jüdische Jugendorganisation Hashomer Hazair jetzt aus der sozialdemokratischen Jugend- und Kinderinternationale ausgeschlossen wurde. Gewiss sieht ein junger, zionistischer Sozialist einige Dinge gerade in einem aufgeheizten Klima markant anders als eine arabische Marxistin oder ein Aufgewühlter aus der Pro-Palästina-Solidaritätsbewegung, aber die Differenzen sollten nicht so groß sein, dass man gleich die Brücken kappt. Im Gegenteil: Wer noch ein paar Neuronen übrig hat, sollte wissen, dass das Kappen solcher Brücken eine ganz blöde Idee ist.
Gesteigerte Hirnlosigkeit auf allen Seiten
Richtig skurril wird es dann, wenn eine große Manifestation von Amnesty International, jüdisch-palästinensischen Menschenrechtlern und anderen nicht nur von den üblichen bezahlten Propagandisten des Netanjahu-Regimes als Aufmarsch der Antisemiten verleumdet wird, sondern auch noch lautstark brüllende „pro-palästinensische“ Gegendemonstranten anrücken lässt. Das muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen: Da wird gegen das Massaker an der palästinensischen Bevölkerung demonstriert, und dann versuchen Störer diesen Protest niederzubrüllen, weil er nicht radikal genug ist, weil auch über die Hamas unfreundliche Dinge gesagt werden oder einfach, weil man findet: Demonstrationen, bei denen der eigene Wahnwitz nicht dominiert, seien gewissermaßen ein trojanisches Pferd des „Zionismus“, also der schrecklichsten menschenfeindlichen, kolonialistischen Ideologie seit den Untaten von Cortez, the Killer.
Ich könnte jetzt natürlich versuchen, all den Netanjahu-Trolls und all den Hamas-Verstehern (und all den Graustufen an Verrücktheit dazwischen) mit meiner geübten Vernünftigkeit und feinfühligen Verständnishuberei zu kommen, aber vielleicht ist es doch einmal angebracht, dem Ratschlag meines Freundes zu folgen und einmal eine Prise gröber die Frage zu stellen:
Haben Sie euch eigentlich allen ins Hirn geschissen?
Titelbild: Miriam Moné, pixabay.com