Im Journalismus gibt es einen fatalen Mechanismus, der uns bei Trump täglich vor Augen geführt wird: den Gewöhnungseffekt. Er führt zur Relativierung schwerer Untaten.
Es ist anstrengend, mühsam und unerfreulich zu wiederholen, welche Gesetzesbrüche Donald Trump begangen hat, welche Lügen er erzählt hat und tagtäglich erzählt, welche Menschenrechtsverletzungen er begeht, wie er die USA in eine Diktatur umbaut und wie er die Reichen reicher macht, während die Mehrheit in seinem Land verarmt. Und doch müsste man es täglich sagen, müsste man das alles täglich aufzählen. Denn im Journalismus gibt es eine fatale Logik, die uns richtigerweise völlig unlogisch erscheinen muss: den Gewöhnungseffekt.
Selbst die Gefährdung der Demokratie, des Rechts und der Freiheit unterliegt diesem Verschleiß. Irgendwann beginnt irgendjemand irgendwo zu relativieren. Auf einmal stellt dieser irgendjemand fest, dass das Übel gar nicht das größte Übel ist – und zieht daraus den Schluss, dass es gar kein Übel ist. Damit ist der erste Schritt getan, einen Politiker eben nicht an seinen Untaten zu messen, sondern andere Untaten zu finden, die angeblich noch viel größer waren. Dieser Irgendjemand war am Freitag Stefan Winkler, der auf Seite 9 der Kleinen Zeitung in seinem Leitartikel »Gerechtigkeit für Trump« schreibt:
Der Friedensnobelpreis für Donald Trump? Diese Vorstellung scheint abwegig. Denn der Mann straft alles Lügen, wofür die hohe Auszeichnung steht: Er ist ordinär, geltungssüchtig, ein Sexist und unberechenbarer Haudrauf. […] Aber haben nicht schon üblere Gesellen den Friedensnobelpreis erhalten?
Üble Gesellen
Gehen wir einmal davon aus, dass die übleren Gesellen – Winkler zählt Jassir Arafat, Menachem Begin und Frederik Willem de Klerk auf – tatsächlich übler waren. Bleibt die Frage, ob der Umkehrschluss naheliegt, dass jeder »Geselle«, der für Stefan Winkler weniger »übel« ist als Jassir Arafat, den Friedensnobelpreis bekommen soll.
Doch darum geht es nicht. Es geht darum, dass ausgehend von dieser Relativierung nun die – nach Meinung des Autors – guten Taten Trumps aufgezählt werden. Ich gehe nun Satz für Satz dieser Aufzählung aus Winklers Artikel durch:
1)
Dass Amerikas Präsident die widerstrebenden Europäer zu höheren Rüstungsanstrengungen zwingt, ist gewiss nicht zu deren Nachteil.
Da muss ich widersprechen: Ich sehe Aufrüstung als Nachteil. Sie kostet viel Geld, das dringend für menschenfreundliche Politik benötigt wird. Und mit den gekauften Waffen werden Menschen getötet.
2)
Es zügelt Putins Appetit auf weitere Eroberungen im Westen und garantiert durch Abschreckung den Frieden.
Ich wüsste gerne, was mit Putins »Eroberungen im Westen« gemeint ist und wo genau Frieden garantiert wird?
3)
Auch der US-Angriff auf Irans Atomwaffenfabriken hat die Welt sicherer gemacht, standen die Ajatollahs doch kurz vor dem Besitz der Bombe.
Hier glaubt der Autor ganz einfach der Behauptung der Aggressoren. Ob sie richtig ist, wissen wir nicht. Etliche Experten haben große Zweifel daran geäußert. Jedenfalls aber würde es die Welt sicherer machen, wenn niemand im Besitz der Bombe wäre, vor allem die USA nicht, der einzige Staat der Welt, der sie zweimal einer städtischen Zivilbevölkerung auf dem Kopf geworfen hat.
4)
Sogar in Gaza scheint auf Trumps Druck eine Waffenruhe zum Greifen nahe.
Die Tagesschau meldet am 13. Juli weitere Tote durch israelische Angriffe: »In Nusseirat starben demnach bei einem Drohnenangriff in der Nähe einer Ausgabestelle für Trinkwasser acht weitere Palästinenser, sechs von ihnen waren Kinder.«
Vergessene Untaten
Man übersieht gerne, welche Untaten aus der Vergangenheit die Welt schon vergessen hat. Etwa Ronald Reagans Waffenlieferungen an den Iran, die als Irangate in die Geschichte eingingen – und doch vergessen sind. Sie wurden von einem Gericht verurteilt. Schon Reagan hat damals klar gemacht: Den USA geht es um keinen Regimewechsel im Iran. Die USA wollen mit Waffenlieferungen Geld verdienen. Und die radikalen Regimes, im Nahen Osten, die als Motiv für das Aufrüstungsgeschrei im Westen die Argumente liefern, sind ihnen nur recht. So ist es bis heute.
Stefan Winkler schließt seinen Leitartikel in der Kleinen Zeitung mit den Worten:
Das alles macht Trump noch lange nicht nobelpreiswürdig. Aber das Tempo, mit dem er sich gerade vom rabiaten Isolationisten zum globalen Konfliktmanager wider Willen wandelt, ist beachtlich. Die Häutung verdient kritische Anerkennung – gerade auch in Europa, das immer noch um den rechten Umgang mit Trump ringt. […] Aber auch Dämonisierung ist unangebracht. Amerikas Präsident ist eine Herausforderung. Ihr gerecht zu werden, heißt, ihn mit kühlem Kopf an seinen Taten zu messen.
Letzteres würde ich auch vorschlagen: Nämlich tatsächlich seine Taten zu betrachten – und nicht sie den Untaten anderer gegenüberzustellen. Der Umbau der USA in eine Oligarchie, die klare Beschneidung von Justiz, Gesetzgebung und Medien ist der Weg in die Diktatur. Von solchen Problemen haben die USA immer abgelenkt, in dem sie den Blick auf Kriege in der Welt gelenkt haben. Mit jedem dieser Kriege – Irak, Afghanistan, Libyen etc. – haben die USA gut verdient und innenpolitische Probleme zugedeckt. Eines haben diese Kriege alle nicht gebracht: Frieden.